Göttin des Frühlings
Entschluss gefällt; sie war an ihr Wort gebunden – auch wenn sie es nur sich selbst gegeben hatte.
»Mein Reich ist endlos – vom kleinsten Gärtchen bis zu den großen weiten Feldern, die zur Ernte heranreifen –, dort findest du, was mir gehört. Zu deiner Frage, wo du bist …« Sie zögerte, dachte nach. »Sagt dir das Wort Olymp etwas?«
Eifrig nickte Lina. »Ja. In der Mythologie leben dort die Götter.«
»Warum sprechen sterbliche Töchter immer nur von Göttern und vergessen die Göttinnen?«, fragte die Frau neben dem Thron.
»Das kann ich nicht beantworten.« Die Sitzende zuckte mit ihren breiten Schultern. »Sterbliche handeln nicht immer einleuchtend, schon gar nicht die Sterblichen der vergessenen Erde.«
»Moment mal, stopp!« Lina schob sich das schwere Haar aus dem Gesicht und zwang sich dabei zu ignorieren, dass es die falsche Farbe, Länge und Stärke hatte, um ihres zu sein. »Ich muss wissen, wo ich bin, wer ihr seid und was hier los ist.«
Beide Frauen wandten ihr den Kopf zu.
»Sterbliche, weißt du denn nicht, mit wem du sprichst?« Die Grauhaarige namens Eirene verbeugte sich in Richtung der Königin. Als Lina nicht antwortete, runzelte sie die Stirn, sprach aber dennoch weiter: »Du stehst vor Demeter, der großen Göttin der Ernte.«
Demeter lächelte nicht, doch ihre blauen Augen wurden weicher. »Wieso kennst du mich nicht? Hast du mich nicht um Hilfe angerufen?«
Lina fiel die Kinnlade herunter. Das musste ein Traum sein, ein schrecklicher, unglaublich realistischer Traum. Wenn sie wieder aufwachte, würde sie darauf achten, nicht noch einmal das zu essen, was sie sich heute vorm Zubettgehen einverleibt hatte. Oder es lag vielleicht doch an den Hormonen. Schon wieder. Sie musste wirklich ein langes Gespräch mit ihrer Mutter führen.
»Carolina Francesca Santoro«, sagte Demeter und klang dabei verstörend wie Linas Großmutter. »Du träumst nicht und du hast auch keine Halluzinationen.«
»Kannst du meine Gedanken lesen?«
»Ich bin eine Göttin, und dein Gesichtsausdruck ist ziemlich durchschaubar.« Sie wies auf einen Punkt vor ihrem Thron. Auf der Stelle erschien dort ein goldener Stuhl. »Komm näher! Wir haben viel zu besprechen, und unsere Zeit ist begrenzt.«
Unsicher erhob sich Lina. Sie rechnete damit, dass ihre Schritte zögerlich und ungelenk waren, doch ihr Körper schien seinen eigenen Rhythmus zu haben. Auf zierlichen Füßen trat sie vor und ließ sich dankbar auf den dargebotenen Stuhl sinken.
Demeter machte eine Geste und sprach leise zu Eirene: »Sie braucht Wein.«
Mit großen Augen beobachtete Lina, wie die grauhaarige Eirene nickte, sich umdrehte und in einer Luftfalte zu verschwinden schien. Nach zwei Atemzügen kehrte sie mit einer Kristallflasche voll goldener Flüssigkeit und einem Becher in der Hand zurück, der dem von Demeter glich. Zuerst schenkte Eirene der Göttin nach, dann füllte sie den zweiten Becher und reichte ihn Lina.
Das Metall war kalt in ihrer Hand, der Wein eisig und unglaublich lecker. Der Geschmack erfüllte Lina und beruhigte augenblicklich ihre gestressten Sinne.
»Das schmeckt wie Wein, nur anders. Es ist, als würde ich Sonnenschein trinken«, flüsterte sie.
»Das ist Ambrosia. Trink in großen Zügen. Es wird das Zittern in dir beruhigen«, sagte Demeter.
Lina gehorchte der Göttin und ließ die kalte Flüssigkeit durch ihren Körper rinnen. Sie spürte, dass das Gefühl von Vertreibung sich in ihr auflöste und sie klar und überraschend ruhig wurde.
Sie hielt Demeters festem Blick stand.
»Ich bin im Olymp.«
Die Göttin nickte.
Lina warf einen kurzen Blick auf ihren fremden Körper. »Aber das bin nicht ich.«
»Nein, du bist im Körper meiner Tochter«, sagte Demeter schlicht.
Lina nahm noch einen großen Schluck Ambrosia. Der Körper ihrer Tochter? In Gedanken blätterte sie durch verstaubte Ordner sinnlosen schulischen Wissens. Demeters Tochter? Wer war das? Ein Name fiel ihr ein.
»Persephone?«, fragte Lina. Noch etwas anderes gehörte zu diesem Namen, eine vage Erinnerung an einen Mythos, doch die schnelle Antwort der Göttin gab Lina zu wenig Zeit, um den flüchtigen Gedanken zu Ende zu führen.
»Ja. Meine Tochter ist die Göttin Persephone.« Demeter nickte feierlich.
»Wenn ich hier bin« – Lina wies auf sich –, »wo ist dann sie?« Doch der Schauer der Furcht, der durch ihren Körper fuhr, beantwortete ihre Frage, bevor die Göttin die Antwort aussprach.
»Du bist sie und sie
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