Göttin des Frühlings
auf ihrem Unterarm, sein Daumen malte träge Kreise auf ihre Haut. Sie erschauderte bei seiner Berührung.
»Ist mein Umhang nicht warm genug?«, murmelte er, und sein Atem kitzelte an ihrem Ohr. »Ist dir kalt?«
Lina schüttelte den Kopf und drehte sich in seinen Armen, damit er ihr Gesicht sehen konnte. Er war überall. Sein Körper war hart und stark, und durch das Leder seines Brustschildes strahlte er Hitze aus. Seine nackten Arme hielten sie umschlungen. Sie öffnete die Lippen, um ihm zu sagen, dass sie nur zitterte, weil er sie berührte, und dass …
»Da!«, flüsterte er eindringlich und beugte sich vor. Er zog sie mit sich und wies mit dem Finger auf etwas. Linas Augen folgten ihm.
Zwei Gestalten näherten sich dem Fluss von der anderen Seite. Als sie näher kamen, erkannte Lina, dass sie sich an den Händen hielten. Ihre Körper spiegelten sich im funkelnden Wasser: ein alter Mann und eine alte Frau. Sie bewegten sich langsam, ihre Schultern und Hüften streiften sich. Ungefähr bei jedem zweiten Schritt hob der Mann die runzlige Hand der Frau an seine Lippen und hielt sie fest, während sie ihn zärtlich anschaute.
Lina fühlte sich ein wenig unbehaglich, die beiden zu beobachten, und doch war sie gefesselt von der offensichtlichen Liebe, die die zwei füreinander empfanden. Das Paar erreichte das Ufer des Flusses. Die beiden schauten sich an. Der Mann legte seine Hände auf die Schultern der Frau.
»Bist du dir wirklich sicher?« Seine Stimme war heiser vor Alter und Rührung, doch sie war klar über den Fluss zu hören.
»Ja, mein Lieber. Ich bin mir sicher. Es ist Zeit, und wir werden uns wiederfinden«, antwortete sie ihm.
»Ich habe dir immer vertraut. Ich kann nicht jetzt an dir zweifeln«, sagte er.
Als der alte Mann die Frau in seine Arme nahm und sie küsste, füllten sich Linas Augen mit Tränen. Sie blinzelte, um klar sehen zu können. Das Paar löste sich voneinander, hielt sich aber weiterhin bei den Händen und kniete sich ans Ufer von Lethe, beugte sich vornüber und trank das kristallklare Wasser. Unmittelbar darauf begannen ihre Körper zu leuchten. Ihr Haar und ihre Kleidung schlugen wild um sich, als würde ein heftiger Wind wehen. Dann verwandelten sie sich. Sprachlos sah Lina zu, wie die Jahre von den beiden abfielen. Ihr Äußeres wechselte von alt zu mittelalt, dann zu jungen Erwachsenen, bis sie schließlich mit der Kraft der Jugend erstrahlten. Da hielt die Metamorphose inne. Staunend betrachteten sich die beiden. Der Mann warf den Kopf in den Nacken und jubelte vor Freude. Wieder zog er die Frau in seine Arme und drückte sie an sich, lachend und weinend zugleich.
Tränen flossen aus Linas Augen – so mussten die beiden ausgesehen haben, als sie sich ineinander verliebten. Während ihrer Umarmung wurden ihre Körper immer heller, bis Lina ihre Augen mit der Hand vor dem grellen Licht schützen musste. Schließlich explodierten sie wie zwei Sterne, und ein Funkenregen ging auf das Wasser nieder. In der Mitte der beiden Explosionen bildeten sich zwei faustgroße Lichter. Sie schwebten über dem Wasser, gewöhnten sich an ihre neuen Sinne. Dann trieben sie langsam flussabwärts, getragen von ihrem eigenen Schwung. Lina schaute ihnen nach. Die zwei Lichtkugeln blieben nah beieinander, so nahe, dass sie wie eine wirkten, je weiter sie sich entfernten. Der Fluss machte eine Linksbiegung, die Lichter folgten ihm, dann waren sie verschwunden.
Lina wischte sich über die Augen. »Was wird aus ihnen werden?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.
»Was du gerade gesehen hast, war die Seele, wie sie aussieht, wenn alle Erinnerungen und alle Verbindungen zum Körper aufgehoben sind. Die beiden Seelen werden bis zu Lethes Mündung treiben. Dort werden sie als Kinder wiedergeboren, die ein ganzes Leben vor sich haben«, erklärte Hades.
Lina drehte sich auf seinem Schoß um, damit sie ihn ansehen konnte. »Aber werden sie wieder zusammen sein? Wenn sie als neue Menschen ohne Erinnerung an ihr vorheriges Leben wiedergeboren werden, wie können sie sich dann finden?«
»Seelenverwandte finden sich immer. Du musst nicht um sie weinen. Die Frau hat die Wahrheit gesagt; sie werden wieder zusammen sein.«
»Versprichst du mir das?« Linas Stimme bebte.
»Ich verspreche es dir, meine Süße. Versprochen.«
Langsam nahm er ihr Gesicht in die Hände, gegen Äonen der Einsamkeit kämpfend. Er hatte sich entschieden. Er musste es versuchen. Er wäre verloren, wenn er es nicht täte.
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