Göttin des Lichts
Stellen Sie sich mal einen Moment lang vor, Sie wären ein hübsches junges Mädchen im antiken Griechenland. Geboren in einer hart arbeitenden Kaufmannsfamilie, sind Sie unzufrieden mit der Rolle, die das Schicksal Ihnen zugeteilt hat. Schieben Sie Ihre heimlichen Bestrebungen beiseite und heiraten den Mann, den Ihre Familie für Sie ausgesucht hat? Was, wenn zum Beispiel ein hübscher junger Mann Ihnen schöne Augen macht? Vielleicht der älteste Sohn eines reichen Landbesitzers? Er ist für Sie eigentlich unerreichbar, aber in seinen Armen finden Sie die Liebe. Plötzlich merken Sie, dass Sie schwanger sind. Lassen Sie sich von Ihrer Familie verstoßen, weil Sie Ihr Verlöbnis gebrochen haben? Oder erklären Sie lieber, wie Ihnen eines Tages, als Sie vor den Mauern der Stadt Blumen gepflückt haben, ein Gott erschienen ist, Sie verführt und geschwängert hat – mit einem Kind, das dann mit viel Aufhebens zur Welt kommt und dessen Leben von Geheimnis und Magie umgeben ist?«
»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen«, murmelte Pamela.
»Darf ich mit meiner Geschichte fortfahren?«
»Sorry«, sagte sie, lehnte sich zurück und nippte an ihrem Met.
»Wie gesagt – Semele wurde eine von Zeus’ zahlreichen sterblichen Geliebten. Aber sie war anders, und das nicht nur wegen ihrer außergewöhnlichen Schönheit. Die Legende berichtet, dass Zeus von seiner jungen Geliebten völlig fasziniert war – so sehr, dass er, als sie ihm sagte, sie sei schwanger, am Fluss Styx schwor, ihr jeden Wunsch zu erfüllen.« Eddie machte eine Pause und trank bedächtig ein paar Schluck von seinem Met.
»Und? Was ist dann passiert?«
»Semeles Herzenswunsch war, Zeus einmal in seiner ganzen Pracht als König des Olymps, Donnergott und Blitzlenker sehen zu dürfen. Zwar bat Zeus sie inständig, ihren Wunsch zurückzunehmen, denn er wusste, dass kein sterblicher Mensch diesen Anblick überleben konnte, aber Semele beharrte darauf. Nun hatte der Herr der Götter einen Eid am Fluss Styx geschworen, und nicht einmal er konnte ein solches Versprechen ungeschehen machen. So kam er, Tränen übler Vorahnungen auf den Wangen, ein letztes Mal zu ihr und offenbarte sich ihr, wie sie es sich gewünscht hatte. Angesichts dieser schrecklichen, wunderbaren Pracht seines flammenden Lichts starb sie.«
»Aber das kann doch nicht wahr sein. Wenn sie tot war, wie konnte Bacchus dann geboren werden?«
»Wegen seiner Liebe zu ihr holte Zeus seinen Sohn aus ihrem toten Leib und trug ihn in seinem Schenkel, bis es Zeit war für den Gott des Weins, geboren zu werden.«
Vor dem gestrigen Tag wäre Eddies Erzählung dieses alten Mythos für Pamela wahrscheinlich nicht mehr als eine interessante Anekdote gewesen. Jetzt aber hielt sie es durchaus für möglich, dass es mehr war als eine erfundene Geschichte. Die bittersüße Tragödie von Semele, die gestorben war, weil sie ihren Herzenswunsch nicht hatte aufgeben wollen, erfüllte sie mit einer schmerzlichen Sehnsucht …
»Davon hatte ich keine Ahnung«, sagte Pamela.
»Glauben Sie, Semele hat ihren Wunsch bereut?«, fragte Eddie.
»Na ja, er hat sie das Leben gekostet.«
»Aber glauben Sie, dass sie es bereut hat? Glauben Sie, dass sie diesen Moment wunderbarer, schrecklicher Erfüllung – so groß, dass ihr sterblicher Körper es nicht ertragen konnte – eintauschen wollte gegen ein Leben zwar in Sicherheit, aber ohne diesen blendenden Moment der Herrlichkeit?«
»Ich bin nicht sicher, ob ich das beantworten kann. Was denken Sie denn, Eddie?«
»Nein, das müssen Sie selbst entscheiden.« Sein Blick wanderte wieder zu Artemis hinüber, und alle Traurigkeit war aus seinem Lächeln verschwunden. »Ich habe meine Entscheidung bereits getroffen.«
»Haben Sie keine Angst?« Pamela brachte die Frage nur mit Mühe über die Lippen.
»Natürlich habe ich Angst. In der Liebe gibt es keine Garantien, Pamela, nur endlose Möglichkeiten – für Schmerz und für Glück. Aber ich kann Ihnen sagen, dass ich sie lieber einen Moment berühren und verbrennen möchte, als mein Leben in Dunkelheit und ohne ihr Licht zu verbringen.«
Bei seinen Worten veränderte sich plötzlich etwas in Pamela. Etwas, was in ihr geschlummert hatte, wurde hellwach. Sie wusste, wie es sich anfühlte, in der Dunkelheit zu leben, und sie wusste auch, wie es war, das Licht zu berühren.
»Ich möchte auch kein Leben ohne Licht«, sagte sie mit einem Kloß im Hals.
Eddie sah sie an und strahlte. »Gut gemacht, Pamela. Gut
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