Goettin in Gummistiefeln
an!«
Wie erstarrt schaue ich zu, wie er Seite um Seite umblättert. Da ist ein Bild vom Foyer. Da eins von dem Stockwerk, auf dem ich gearbeitet habe. Ich kann meinen Blick nicht davon losreißen - gleichzeitig will ich das alles nicht sehen. Das ist mein altes Leben. Es gehört nicht hierher. Und dann, plötzlich, als Eddie noch einmal umblättert, durchzuckt es mich.
Da bin ich. Ich.
Im schwarzen Kostüm, die Haare zu einem Knoten hochgesteckt, sitze ich an einem Konferenztisch mit Ketterman, David Elldridge und einem Mann aus den Staaten. Ich erinnere mich wieder, wie dieses Foto gemacht worden war. Ketterman war stocksauer wegen der Störung.
Ich sehe so blass aus. So ernst.
»Und, ich meine ... will ich wirklich meine ganze Freizeit dafür opfern?« Melissa deutet auf die Seite. »Diese Leute schuften Tag und Nacht! Die kennen nichts anderes!«
Da ist mein Gesicht. Direkt vor aller Augen. Ich warte darauf, dass jeden Moment jemand die Stirn runzelt und sagt, »Moment! Was ...«
Aber es tut keiner. Melissa redet weiter auf Eddie ein und tippt dabei immer wieder auf die Broschüre. Eddie nickt. Nathaniel starrt, offensichtlich gelangweilt, in den Garten hinaus.
»Obwohl man da wirklich höllisch gut verdient ...«, sagt Melissa gerade und blättert weiter.
Weg. Mein Bild ist weg.
»Sollen wir gehen?« Nathaniels warme Hand zerrt an mir, und ich halte sie einen Augenblick lang ganz fest.
»Ja.« Ich blicke lächelnd zu ihm auf. »Gehen wir.«
19
Ich bekomme die Carter-Spink-Broschüre erst nach zwei Wochen wieder zu Gesicht, als ich in die Küche komme, um das Mittagessen zu machen.
Was ist nur mit der Zeit los? Ich erkenne sie kaum wieder. Früher ist sie erbarmungslos, in fest umrissenen Portionen, vorbeigetickt, doch nun ist sie wie das Meer, Ebbe und Flut, ein sanftes Dahinfließen. Ich lege nicht mal mehr die Uhr an. Gestern habe ich den ganzen Nachmittag mit Nathaniel in einem Heufeld gelegen und den Pusteblumen nachgeblickt, wie sie an mir vorbeischwebten, und das einzige Geräusch war das Zirpen von Grillen.
Mich selbst erkenne ich auch kaum wieder. Ich habe eine gesunde Bräune bekommen, weil ich in den Mittagspausen meistens im Freien bin. Meine Haarspitzen sind von der Sonne gebleicht, meine Wangen voll und rosig. An den Armen kriege ich auch allmählich Muskeln, vom vielen Putzen und Teigkneten und Töpfewuchten.
Es ist mittlerweile Hochsommer, und ein Tag ist heißer als der andere. Jeden Morgen vor dem Frühstück begleitet mich Nathaniel durchs Dorf zu den Geigers zurück - und selbst zu dieser frühen Stunde wird es schon ziemlich warm. Eine Trägheit, eine Muße, scheint über den Tagen zu liegen. Nichts scheint eine Rolle zu spielen. Alle sind in Ferienstimmung -alle bis auf Trish, die am Rotieren ist. Sie will nächste Woche einen riesigen Charity-Lunch geben, weil sie in einer Zeitschrift gelesen hat, dass das Damen der besseren Gesellschaft tun. Bei dem Wirbel, den sie veranstaltet, könnte man meinen, dass es sich um eine Fürstenhochzeit handelt.
Ich räume die Papiere zusammen, die Melissa überall auf dem Tisch verstreut hat, als mir plötzlich die Carter-Spink- Broschüre ins Auge fällt. Ich kann nicht widerstehen und sehe sie mir an. All die vertrauten Bilder. Da sind die Stufen, die ich sieben Jahre lang jeden Tag hinaufgestiegen bin. Da ist Guy, umwerfend attraktiv wie immer. Da ist dieses Mädchen, Sarah, aus der Prozessrechtsabteilung, die ebenfalls kurz vor der Ernennung zum Seniorpartner stand. Ich habe nie erfahren, ob es geklappt hat.
»Was machen Sie da?« Melissa ist hereingekommen, ohne dass ich sie gehört habe. Sie mustert mich misstrauisch. »Das gehört mir.«
Maaann. Als ob ich eine Broschüre klauen würde.
»Ihre Unordnung aufräumen«, bemerke ich anzüglich und lege die Broschüre weg. »Ich brauche den Tisch.«
»Ach ja. Danke.« Melissa massiert sich das Gesicht. Sie sieht in letzter Zeit ziemlich abgezehrt aus. Unter ihren Augen liegen dunkle Schatten und ihre Haare sind ganz stumpf und strähnig.
»Sie schuften wohl ganz schön«, sage ich ein wenig freundlicher.
»Naja, was soll man machen.« Sie reckt das Kinn. »Aber es lohnt sich am Ende. Anfangs wird man knallhart rangenommen, aber wenn man sich mal qualifiziert hat, wird es ruhiger.«
Ich blicke in ihr spitzes, arrogantes kleines Gesicht. Selbst wenn ich ihr sagen könnte, was ich wüsste, sie würde mir sowieso nicht glauben.
»Ja«, sage ich nach einer Pause, »Sie haben sicher
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