Goettin in Gummistiefeln

Bleistift in der Hand, und überlege mir, was dahinterstecken könnte.
    Wer könnte von der ganzen Sache profitieren? Wieder und wieder starre ich meine Skizze, die Pfeile, mit denen ich die Verbindungen gezogen habe, die aufgelisteten Tatsachen an. Zwei Brüder. Ein Millionenbetrag, der zwischen einer Bank und zwei Firmen hin und her geschoben wird. Überleg, Frau. Überleg ...
    Mit einem Frustschrei reiße ich die Seite vom Block und zerknülle sie. Noch mal von vorne. Alles schön der Reihe nach. Ganz logisch. Glazerbrooks hat Konkurs angemeldet. Die Third Union Bank hat ihr Darlehen verloren. BLLC Holdings ist an die Spitze der Gläubiger gerückt...
    Ich tippe ungeduldig mit dem Stift aufs Papier. Ja, und? Dann kriegen sie doch nur das zurück, was sie ohnehin verliehen haben. Davon haben sie doch keinen Vorteil, keinen Gewinn.
    Außer - außer es wurde überhaupt kein Geld verliehen?
    Der Gedanke schießt mir wie aus dem Nichts durch den Kopf. Ich setze mich kerzengerade auf, kriege fast keine Luft mehr. Wenn es das ist? Wenn das Ganze ein Riesenschwindel ist?
    Meine Gedanken beginnen zu rasen. Angenommen, da sind zwei Brüder. Sie wissen, dass Glazerbrooks in ernsten finanziellen Schwierigkeiten steckt. Sie wissen, dass die Bank gerade fünfzig Mille hat springen lassen, dass das Darlehen aber nie ordentlich vorgemerkt wurde. Das bedeutet, dass da fünfzig Millionen rumfliegen, ungesichert, die sich jeder unter den Nagel reißen kann, der einen Anspruch anmeldet ...
    Ich kann nicht länger stillsitzen. Aufgeregt gehe ich auf und ab, knabbere fieberhaft an meinem Bleistift. In meinem Hirn sprühen die Funken. Es würde funktionieren. Ja, das würde es. Sie türken die Zahlen. BLLC Holdings kriegt das Geld, das die Third Union aushändigt, die Versicherung von Carter Spink zahlt die Zeche -
    Ich bleibe abrupt stehen. Nein. Das funktioniert doch nicht. Ich bin ja dumm. Die Versicherung zahlt ja nur deshalb, weil ich grob nachlässig war. Das ist das zentrale Element. Daran hängt alles, darauf beruht der ganze Plan. Darauf, dass ich, Samantha Sweeting, diesen speziellen Fehler mache.
    Aber, ich meine ... wie sollte man so was planen? Das ergibt keinen Sinn. Unmöglich. Man kann doch keinen Fehler im Voraus planen. Man kann doch niemanden dazu bringen, dass er etwas vergisst, dass er etwas vermasselt -
    Wieder bleibe ich stocksteif stehen. Meine Haut ist auf einmal ganz klamm. Das Memo.
    Ich habe das Memo erst auf meinem Schreibtisch entdeckt, als es längst zu spät war. Zuvor habe ich es noch nie gesehen, das weiß ich genau.
    Was, wenn -
    O Gott.
    Ich lasse mich auf den Fenstersims sinken. Meine Beine sind der reinste Wackelpudding. Wenn mir nun jemand das Memo absichtlich untergeschoben hätte? Es einfach zwischen einen Aktenstapel gesteckt hätte, nachdem die Frist längst abgelaufen war?
    Mein Herz beginnt, wie wild zu hämmern, und ich muss mich unwillkürlich am Vorhang festhalten.
    Wenn ich nun überhaupt keinen Fehler gemacht hätte?
    Ich habe das Gefühl, dass alles um mich herum ins Wanken gerät, auseinander fällt und sich neu zusammensetzt. Wenn Arnold das Darlehen nun absichtlich nicht hat registrieren lassen - und es dann so aussehen ließ, als wäre es meine Schuld?
    Immer wieder lasse ich das Gespräch in meinem Kopf ablaufen, als Arnold damals in mein Büro kam. Es ist wie ein Band, das ich wieder und wieder zurückspule. Als ich sagte, ich könnte mich nicht erinnern, das Memo auf meinem Schreibtisch liegen gesehen zu haben. Da hat er sofort das Thema gewechselt.
    Und ich bin davon ausgegangen, dass es die ganze Zeit bei mir gelegen hat. Ich bin automatisch davon ausgegangen, dass es meine Schuld war. Meine mangelnde Effizienz. Und wenn nicht? Jeder bei Carter Spink wusste, dass mein Schreibtisch der unordentlichste war. Es wäre ganz leicht gewesen, mir das Memo unterzuschieben. Es so aussehen zu lassen, als würde es schon seit drei Wochen da liegen.
    Mir bleibt fast die Luft weg. Seit zwei Monaten lebe ich mit diesem Fehler. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, und jeden Abend, wenn ich schlafen gehe. Wie ein nagender Schmerz, der immer da ist, wie eine Litanei in meinem Kopf: Samantha Sweeting hat ihr Leben ruiniert. Samantha Sweeting hat‘s vermasselt.
    Aber ... wenn ich nun benutzt wurde? Wenn es gar nicht meine Schuld war? Wenn ich am Ende gar keinen Fehler gemacht habe?
    Ich muss es wissen. Ich muss die Wahrheit wissen. Jetzt sofort. Mit zitternder Hand greife ich abermals zum Handy und