Goettinnensturz
1984 war das gewesen. Berenike starrte das Schild an, bis die Buchstaben auf dem verwitterten Holz vor ihren Augen verschwammen. Jonas. Auch er war angeschossen worden. Sie hatte ihn für unverwundbar gehalten. Was natürlich Blödsinn war. Er war kein Held, selbst Achill war nicht vor Wunden gefeit gewesen.
Berenike wandte sich ab, wartete, bis sie die Straße überqueren konnte. Sollte es doch ein paar Gäste fürs Ausseerland geben …? Nein, die meisten Kennzeichen trugen die Abkürzung BA für Bad Aussee, was zum großen Ärger der Leute bald Geschichte sein würde.
Sie schlug den Fußweg entlang der Traun ein, der Richtung Hallstätter See führte. So weit würde sie nicht gehen. Sie sah zum grauen Himmel hoch. Vielleicht würde es bald regnen. Zumindest kam sie nicht ins Schwitzen.
Kaum blieb die Straße hinter ihr zurück, tauchte Berenike in Einsamkeit ein. Der Autolärm war bald nicht mehr zu hören. Nur das Rauschen des Flusses, der Weg und sie. Kies knirschte unter ihren Füßen, ab und an piepste ein Vogel. Berenike atmete die Waldluft ein und merkte nach einer Weile, wie gut der Spaziergang ihr tat. Es war fast wie Mediation. Schon lag der typische, leichte Knoblauchgeruch des Bärlauchs in der Luft. Sie würde noch ein Stückchen gehen, um sich weiter von der Straße zu entfernen, und dann zu pflücken beginnen.
Eine Amsel sang ungeachtet des kühlen Wetters. Berenikes Muskeln entspannten sich, der Druck ließ nach, ein wenig zumindest. Natur, du große Heilerin! Hatte sie schon so oft im Leben gesund gemacht.
Ihre Schritte fanden den Rhythmus des Wassers. Weiter, weiter, weiter. Ihre Gedanken lösten sich, waren nur mehr bei dem, was um sie war. Sich lösen vom Trauma, damit leben. Die schlechten Neuigkeiten loslassen. Eins werden mit dem Weg, der eigenen Bewegung. Ganz dem Herzen vertrauen. Ganz bei sich selbst bleiben.
Doch halt. Da ist etwas. Jemand. Etwas, das nicht hierher gehört. Etwas, das Berenikes Rhythmus stört, ihren Herzschlag. Schatten hinter ihr, Bewegungen. Sie dreht sich um – aber sie sieht niemanden. Kein Mensch außer ihr weit und breit. Töne einer leisen Melodie, wie von Weitem, verklingend.
Sie geht weiter. Wieder Schritte hinter ihr. Wieder fährt sie herum – wieder ist niemand zu sehen. Jetzt auch Bilder. Von schwingenden Dirndlschößen. Schöne Beine in schwarzen Schuhen, mit harten, kantigen Absätzen. Füße, die zutreten. Auf ein Opfer eintreten. Knochen knirschen. Angst in der Luft. Jemand flieht, auf allen vieren, getroffen. Wird eingeholt.
Egal, wohin Berenike sich dreht, da sind nur Schatten, sonst nichts. All das ist nicht real. Sie ist allein hier. Allein …
Etwas mischt sich in die Atmosphäre, das nicht hierher gehört. Ein Lachen, bei dem sich ihr die Nackenhaare sträuben. Das die feinen Vogelstimmen grausam übertönt.
Vielleicht nur das Plätschern des Wassers. Womöglich macht ihr überreizter Kopf Worte aus Geräuschen. Aus Wellen, aus rauschenden Wassermassen.
Ein Seufzen entfährt Berenikes Kehle, bringt keine Erleichterung. Sie will weglaufen, umdrehen, nur weg hier. Zwingt sich, auf dem Weg zu bleiben, sich von einem unsichtbaren Faden voranziehen zu lassen. Das Getose des Wassers wird lauter, dröhnt in den Ohren. Dunkle Aura unter den nunmehr hohen Tannen. Sie hat nicht bemerkt, wie sich die Vegetation verändert hat. Oben am Himmel kalte schwarze Wolken.
Da, der Bärlauch. Endlich. Das wird sie auf andere Gedanken bringen. Sich konzentrieren, abreißen, in den Korb legen. Ganz in der Sache aufgehen. Keine anderen Gedanken, als an das Grün vor ihr, die Hände, die davon pflücken.
An einem Baumstamm klebt ein ausgebleichtes Hinweisschild auf ein Einkehrwirtshaus. 30 Gehminuten von hier. Ob heute überhaupt noch wer zu Fuß geht … ›Jeden Mittwoch Hüttengaudi mit Branko‹ steht da. Ah, der berühmte Branko, eigentlich ein Jugo, aber hier aufgewachsen und von den Steirern als quasi Hiesiger vereinnahmt. Weil er schon als Jugendlicher besser hat jodeln können als die hier Geborenen.
Erneut meint Berenike, Schatten zu sehen, die sich auf sie zu bewegen. Dazu volkstümliche Geigenklänge.
Sie wird noch irre!
Berenike stellt ihren Korb ab, geht in die Knie, fängt an, das einzeln aus dem Boden wachsende Bärlauch-Kraut blattweise am Stängel abzupflücken, als wäre es eine Blume. So kann man es nicht mit Maiglöckchen verwechseln. Sie mag den Knoblauchgeruch, aber sie weiß, dass es nicht alle so empfinden, dass dieser die
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