Goettinnensturz
Überraschung.
Fäulnisgeruch, dazwischen im leichten Wind ab und zu eine Prise Bärlauch. Berenikes Mageninhalt hebt sich wie von selbst, je mehr sie den Toten ansieht. Sie taumelt, nur weg von hier, stürzt halb, kniet sich ins Bärlauchfeld, erleichtert sich. Der Tote lässt sich nicht aus den Gedanken bringen.
Vorsichtig balancierend steht Berenike auf, tritt in eine nicht sichtbare Erdvertiefung, spürt einen Stich im Knie, das Kreuz jault auf von der unerwarteten falschen Bewegung. Wieder der Gedanke, dass sie bald 40 sein wird. Und die Erkenntnis, gerade hier, dass sie all der Vergänglichkeit etwas Springlebendiges entgegensetzen will. Etwas mit wilden Tänzen und Gelächter, das zum Himmel schallen und Tote lebendig machen soll. Ohne Jonas. Der Schmerz, in den letzten Tagen etwas abgeflaut, legt sich auf ihre Brust.
Der saure Gestank von Erbrochenem mischt sich mit dem schrillen Duft-Potpourri aus Fäulnis und Knoblauch samt Tannenduft. So viel Tod, so viel Gewalt in ihrem Leben. Ihre jüdischen Verwandten von Vaterseite, getötet, verschwunden. Die ›arischen‹ Großeltern mütterlicherseits, der Opa, der in der Freizeit gern in Jägergrün gegangen ist, die Oma Roither in ihrem seltsamen Fantasie-Dirndl, das keinem Berenike bekannten Ort zuordenbar war. Ein ermordeter Journalist in ihrem ersten Jahr hier im Ausseerland. Später ihre Tanzlehrerin, grausam zerstückelt, zur Schau gestellt in einem Frisiersalon. Und doch gibt es auch das: Dass sie einem Menschen den Tod vergönnt: Jenem Mann, der sie angegriffen und fast umgebracht hat.
All diese Gesichter! Todesfratzen tanzen durch ihren Kopf, ein absurdes Marionettenspiel, als wäre Berenike die einzige Lebendige weit und breit.
Stille. Wie vor einem Gewitter, einem Unwetter. Keine einzige Vogelstimme mehr. Kein Lüftchen, nicht ein Ast bewegt sich. Niemand, der vorbeispaziert. Das hat sie jetzt von ihrer Sehnsucht nach einsamen Wegen!
Sie zwingt sich, ein paarmal durchzuatmen. Auf die Ermittler warten. Die Augen zumachen, an nichts denken. Wozu übt sie sich in Yoga und Meditation, also bitte!
Und dann ist endlich die Polizei da …
*
Die Ermittler waren schon von Weitem zu hören. Sirenengeheul. Immer diese absurde Hektik im Angesicht des Todes. Als ob das einmal jemanden gerettet und lebendig gemacht hätte.
Berenike nickte Mara Wander grüßend zu, die den Konvoi anführte. »Ist Jonas nicht mit euch gekommen?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Mara und lächelte. Es wirkte ein wenig mitleidig. Oder routiniert.
Der übliche Zirkus nahm seinen Lauf. Tatortgruppe, Reinhard, der ihr grüßend zunickte. Der Polizeifotograf, der alles ablichtete, sogar Berenikes Korb. Absperrungen wurden aufgestellt, obwohl sie die einzige Person war, die nicht zu den Ermittlungstrupps gehörte. Der Polizeijurist traf ein, beriet sich mit Mara.
»Normal sterben die Leute an der Verwechslung von Bärlauch mit Maiglöckchen – nicht nur im Bärlauchfeld«, murmelte ein Kollege Maras, ein junger Blonder, der sich lässig wie ein begnadeter Surfer bewegte.
»Meine Güte, der Branco!«, rief ein anderer. »Gestern war er noch im Fernsehen. Live. Und heut ist er tot.«
»Weit ist er jedenfalls nicht gekommen. Der Täter muss ihn beim Bahnhof abgepasst haben.«
»Er fährt immer öffentlich – das ist bekannt.«
»So schnell kann’s gehen.«
»Kaum berühmt, schon tot.«
»Als Musiker hat er’s geschafft – er war in einer Sendung mit Hansi Hinterseer.«
»Jetzt wird der Branco noch berühmter werden. Die Leut werden seine CDs kaufen wie die Geier.«
»Hat gute Musi g’macht, der Jugo, fast wie einer von uns.«
»Dabei war er nur a Tschusch.«
»Is’ 1992 herkommen, vorm Bosnienkrieg geflüchtet mit seinen Eltern, da war er grad einmal vier oder so.«
»A Tschusch bleibt imma a Tschusch.«
»Trotzdem geile Musik. Und das Hüterl war sein Markenzeichen.«
»Ist er … erstickt?« Berenike sah fragend in die Runde.
»Sieht so aus. Oder erwürgt.« Reinhard blieb heute wortkarg. Er winkte dem Fotografen, ließ die Knebelung aus der Nähe ablichten. Dann holte er den herausstehenden schwarzen Knebel aus dem Mund des Toten. Der ließ sich tatsächlich zu einem Hut entfalten. Bei diesem Anblick bekam Berenike selbst keine Luft. Der Arzt hielt das feuchte, gewalkte Ding in der Hand, sah auf den Toten, dann fiel etwas zu Boden. Eine Tarotkarte. Das konnte wirklich kein Zufall mehr sein.
Allein ging Berenike den Weg zurück zu ihrem Fahrrad. Diesmal
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