Goettinnensturz
wieder, die dörfliche Nähe. Schön, aber auch distanzlos. In der Stadt vermisst, hier mitunter zu viel, zu nah.
»Es ist nur«, Berenike unterdrückte ein Gähnen, »meine Tarotkarten sind weg.«
»Wie weg? Du glaubst doch nicht…?«
»Du hast es auch gehört?«
»Dass eine Tarotkarte bei der Leiche aufgetaucht ist?«
»Bei allen Leichen, Helena.«
»Oh.« In Helenas Augen glomm etwas wie Verstehen auf, gefolgt von Misstrauen, das so schnell, wie es gekommen war, wieder aus ihrem Blick verschwand. Hoffentlich würde Helena nicht ausgerechnet sie verdächtigen! Immerhin hatte sie mehrere Mordserien mit aufgeklärt.
»Und du bist sicher«, sagte Helena langsam, jedes Wort abwägend, bevor es ihr über die Zunge rollte, »du bist sicher, dass deine Tarot-Karten nur … zufällig … verschwunden sind?«
»Natürlich, was sonst?«
»Die gefundene Karte stammt aus einem Deck von Crowley, oder? Hast du nicht erzählt, du besitzt ein solches?«
»Das ist kein Beweis. Crowleys Karten werden seit Jahrzehnten verkauft.«
»Natürlich kann es Zufall sein, Berenike. Und du hast sicher Alibis für sämtliche Taten.«
»Na ja …«
»Also nicht.«
»Nein. Nicht für alle.«
»Ist Jonas deshalb kaum noch bei dir?«
Berenike wollte auffahren und merkte, dass es keinen Sinn hatte, dass sie es nicht abstreiten konnte. »Das weißt du also auch, Helena.«
»Komm, sei nicht traurig.« Helena kletterte aus dem Wagen, legte einen Arm um Berenikes Schultern. »Gehen wir was trinken? Zu mir? Alkoholfrei, wenn du willst. Na komm.« Sie sagte nicht mehr, zum Glück, sonst hätte Berenike glatt losgeheult.
Sie schluckte mehrmals und sah Helena mit neu erwachter Energie an. »Sag, Helena, hast du denn Tarotkarten? Ich muss da was überprüfen. Also, wenn du mir traust …«
»Ich traue dir, Berenike. Lass uns fahren.«
18
Es war ein schöner Abend, die Sonne schien. In Helenas Atelier nahe am Waldrand waren sie allein, hatten ihre Ruhe.
»Hast du eine Landkarte von der Gegend?« Berenike ließ ihre Fingerspitzen über Helenas Tarotkarten gleiten, die sie ihr vorhin gleich gegeben hatte.
Helena hantierte mit einer Flasche Aperol. »Müsste hier irgendwo sein.« Sie kramte in einer Lade unterhalb der Glasvitrine, brachte alte Kugelschreiber zum Vorschein, ein paar Papiere, ein kaputtes Gummiringerl. »Sag, was hast du damit vor?«
»Warte einen Moment. Ich muss mich konzentrieren.« Gedankenverloren blätterte Berenike in ihrem Buch über Tarot, das sie noch aus dem Salon geholt hatte. Sie legte vier Karten nebeneinander, zwei Motive kannte man, über die anderen konnte man nur spekulieren.
»Hier hast du die Straßenkarte, was Besseres habe ich nicht.« Helena reichte ihr einen abgegriffenen Autoatlas.
»Danke, damit wird es gehen. Darf ich darauf was markieren?« Berenike blätterte zu der Seite, auf der das Salzkammergut dargestellt war.
Helena reichte ihr wortlos bunte Aufkleber in Kreisform. »Jetzt sag schon, Berenike, was geht dir durch den Kopf?« Die Malerin schenkte Aperol ein, Prosecco, goss mit Wasser auf und fügte eine Orangenscheibe hinzu. Dann setzte sie sich neben Berenike. Beide beugten sich über die Karten und den Atlas.
»Die Fundorte der Toten. Nummer 1 in Strobl – hier.« Ein rosa Punkt wanderte auf den Ort am Wolfgangssee auf der Landkarte. »Nummer 2 in Bad Aussee. Hier haben wir die dritte Leiche – Bad Aussee. Und die vierte – im Wald nahe Bad Aussee. Siehst du, was ich sehe?«
»Der Weg.« Helena starrte mit aufgerissenen Augen auf die Punkte auf der Karte des Salzkammerguts mit seinen blauen Seen, grünen Wiesen und braun eingezeichneten Bergen. »Das innere Salzkammergut als Tarot-Legemuster?«, flüsterte sie hinter vorgehaltener Hand, als ob jemand mithören könnte außer ihnen beiden. Ein Geist. Satan. Der Mörder …
»Genau. Eine Tarot-Legung. Der Weg oder das Entscheidungsspiel. Nur für wen? Und worüber?«
»Und – von wem gelegt?«
»Glaubst du das wirklich?« Helena fuhr mit einem Finger über die Karten und den Straßenplan.
»Oh ja.« Berenike nickte heftig. »Und wie ich das glaube. Was für ein Zufall sollten die Karten bei den Ermordeten sonst sein? Vier Mal! Vier Tote und vier Tarotkarten! Ich bitte dich. Nur, was ist mit Sylvie?«
»Du glaubst nicht, dass sie noch lebt, oder?«
»Ich …« Berenike fühlte in sich hinein. Trauer kam hoch. »Nein, ich kann’s mir nicht vorstellen, beim besten Willen nicht. Nicht nach all der Zeit, die vergangen
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