Gohar der Bettler
fremden Stadt, in der ihm unbekannte Sitten herrschten. Ein einziges Wort, die geringste Bewegung, und schon würden sich die Leute nach ihm umdrehen. Und zu guter Letzt war die Polizei hier besser organisiert: Dieser horrende Reichtum mußte beschützt werden. Gegen was und gegen wen? Yeghen hielt diese Angst für unbegründet: Sie hatten sich in ihrem Reichtum so gut verbarrikadiert, daß es mit Sicherheit niemandem in den Sinn kam, sie zu bestehlen.
Er bog rechts in eine Straße ein und setzte im periodisch unterbrochenen Licht der Straßenbeleuchtung seinen hüpfenden Marsch fort.
Man muß ihm zugute halten, daß er sich nicht für ein Genie hielt - eine bei Dichtern nicht gerade weitverbreitete Eigenschaft. Er vertrat die Meinung, daß es dem Genie an Fröhlichkeit mangele. Die ungeheure demoralisierende Wirkung, die einige sogenannte große Geister auf die Menschheit ausübten, stellte in seinen Augen ein höchst schändliches Verbrechen dar. Seine Wertschätzung galt vielmehr ganz gewöhnlichen Leuten, die einfach von einer niemals versiegenden Freude beseelt waren, und nicht Dichtern, Denkern oder Ministern. Für Yeghen ermaß sich der wahre Wert an dem Ausmaß der Freude, das jedem Menschen zu eigen war. Wie konnte man intelligent und zugleich traurig sein? Selbst im Angesicht des Henkers hätte sich Yeghen seine Frivolität nicht nehmen lassen; jede andere Haltung hätte er für Heuchelei gehalten, geprägt von einer falschen Vorstellung von Würde. So war es auch mit seiner Poesie; sie war die Sprache des Volkes, in dessen Mitte er lebte; eine Sprache, in der trotz des größten Elends der Humor seine Blüten trieb. Seine Beliebtheit im Alten Viertel war genauso groß wie die des Affendompteurs oder des Marionettenspielers. Er meinte sogar, daß sich sein Verdienst nicht mit dem dieser Volksbelustiger messen konnte; nur zu gern wäre er einer der Ihren zu sein. Er hatte nichts von einem Schriftgelehrten, dem seine Karriere und seine Unsterblichkeit wichtig sind; er strebte weder nach Ruhm noch nach Anerkennung. Yeghen verfaßte seine Gedichte in einer einfachen und alltäglichen Sprache; ein Kind konnte sie genauso verstehen wie ein Erwachsener, denn ihre Empfindung war ein unfehlbares Gespür für das Leben in seiner ureigentlichen Form.
Diese nicht enden wollende Straße mit ihren geschlossenen Geschäften, in der sich die Straßenlaternen wie zu einem langen Bestattungszug aneinanderreihten, machte einen unheimlichen und trostlosen Eindruck. Yeghen beschleunigte seinen Schritt. Er hatte es eilig, ins Cafe des Miroirs zu kommen und dort in der Atmosphäre unbekümmerten Geplauders und heiterer Sorglosigkeit seinen Minztee trinken zu können. Plötzlich hatte er eine Art Eingebung und blieb stehen. Die Uhrzeit! Wie spät mochte es wohl sein? Hatte er noch genügend Zeit, um das junge Mädchen zu sehen? Wie konnte er das nur vergessen? Er war verwirrt, fing beinahe zu laufen an.
Es bestand keine Möglichkeit, die Uhrzeit in Erfahrung zu bringen; in dieser menschenleeren Straße gab es niemanden, den er fragen konnte. Yeghen wollte schon verzweifeln, als er einen Mann aus einer Toreinfahrt heraustreten sah. Der Mann war ziemlich beleibt, europäisch gekleidet und in einen schweren, schwarzen Mantel von tadellosem Schnitt gehüllt. Er sah aus wie einer, der eine Uhr besitzt.
Yeghen verlangsamte seinen Schritt und trat auf den Mann zu.
»Kannst du mir sagen, mein Bey, wie spät es ist?«
Lässig zog der Mann eine große silberne Uhr aus seiner Westentasche und warf einen Blick darauf
»Viertel vor sieben«, sagte er. »Wann geht dein Zug?«
»Ich nehme keinen Zug«, sagte Yeghen. »Ich habe eine Verabredung mit meiner Geliebten.«
Der Mann musterte Yeghen genau, nickte mehrmals mit dem Kopf und sagte:
»Das ist wohl möglich, mein Lieber!«
»Das ist sogar sehr gut möglich«, bekräftigte Yeghen.
Und ohne sich bei dem Mann zu bedanken, setzte er seinen Weg fort.
Diese niederträchtige Person! Er schien daran zu zweifeln, daß er eine Verabredung mit seiner Geliebten haben könnte. Und doch entsprach es der Wahrheit, beinahe jedenfalls.
Er würde noch rechtzeitig kommen, um sie vorübergehen zu sehen: Vor sieben Uhr kam sie nie heim. Einige Schritte vor dem Haus blieb er stehen und wartete am Rand des Gehsteigs, an einer dunklen Stelle zwischen zwei Straßenlaternen. Einige Geschäfte in dieser ziemlich belebten Straße hatten noch geöffnet; zwei oder drei fliegende Händler mit ihren
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