Gohar der Bettler
blieben einen Augenblick lang stehen, um ihn zu betrachten, und setzten dann mit erhobenem Kopf ihren Weg fort.
Er sah sie von weitem kommen und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Dieses lange Herumstehen in einem Viertel mißtrauischer Kleinbürger hätte böse enden können; zum Glück war das jetzt vorbei. Einen Moment lang zögerte er, dann ging er los und berechnete seine Wegstrecke, damit die Begegnung zufälligerweise unter einer Straßenlaterne stattfinden würde. Mit dem tief in ihm verwurzelten Bewußtsein für seine Häßlichkeit war es Yeghen nicht möglich, Anspruch darauf zu erheben, verführerisch zu sein; trotzdem schritt er mit dem freudigen Gesichtsausdruck eines Mannes voran, der geliebt wird und über jeden Zweifel erhaben ist. Im Grunde zählte er auf seine außergewöhnliche Häßlichkeit, um die Bewunderung des jungen Mädchens zu erzwingen.
Welch ein Unglück! Er hatte das für sie bestimmte Gedicht vergessen. Wo war das Gedicht? Schnell durchwühlte er seine Taschen, kramte mehrere Papierfetzen hervor und glaubte schließlich, es gefunden zu haben. »Hoffentlich ist es das richtige«, sagte er sich. Wenn nicht, sei’s drum: Ihm fehlte die Zeit, es nachzuprüfen. Sie befand sich schon fast auf seiner Höhe, einem ätherischen Wesen gleich, einer aus dem Dunst des Haschischs geborenen Erscheinung, so nah, so wirklich, und doch so fern.
Leichten und bestimmten Schrittes trat sie in das diffuse Licht der Straßenlaterne. Mit dem erhobenen Kopf und den nach vorn gerichteten Augen beherrschte sie die Straße mit einer Art Verachtung, die sich auf das ganze Viertel erstreckte. Sie trug eine Baskenmütze aus blauem Velours sowie einen Mantel in derselben Farbe, der an der Taille mit einem schwarzen Ledergürtel geschlossen war. Diese europäisch anmutende Eleganz betonte noch das Ungewöhnliche ihres stolzen Gangs. Die Notenhefte, die sie fest unter ihrem Arm hielt, verliehen ihr das Aussehen einer strebsamen Schülerin. Alles an ihr zeugte von einem naiven Stolz und einer vollkommenen Verachtung für ihre Umwelt.
Sie ging ganz nah an Yeghen vorbei, und ohne das geringste an ihrer Haltung zu verändern, tat sie so, als würde sie ihn überhaupt nicht wahr nehmen. Yeghen war unter der Laterne beinahe stehengeblieben; er zeigte sein Gesicht im vollen Lichtschein, wobei sein Mund von einem Grinsen verzerrt wurde, das ein verführerisches Lächeln darstellen sollte. Dieses Mal aber verfehlte diese possenhafte Mimik ihre Wirkung auf das Mädchen. Sie besaß noch nicht einmal die Güte, ihn eines Blickes zu würdigen.
Yeghen, von diesem Verhalten enttäuscht, machte noch ein paar Schritte, dann drehte er sich um und lief hinter ihr her. Er fühlte, daß er nötigenfalls sogar einen Aufruhr verursachen würde. Wie konnte sie es nur wagen, ihn zu ignorieren?
»Fräulein, das hier hast du verloren.«
Verblüfft, mit zugleich ernstem und ängstlichem Gesichtsausdruck, blieb sie stehen. Jetzt wurde die Angelegenheit für sie komplizierter; sie hatte nicht gedacht, daß er den Mut aufbringen würde, sie anzusprechen. Instinktiv streckte sie den Arm aus; Yeghen gab ihr das Stück Papier mit dem Gedicht und eilte hastig und ohne sich umzudrehen davon.
All das ging ohne Zwischenfall vor sich; er hatte seinen Coup meisterlich gelandet. Wie würde sie nach der Lektüre des Gedichts reagieren? Der Gedanke an die nächste Begegnung mit dem Mädchen erfüllte ihn schon mit Vorfreude auf den Spaß, den er dabei haben würde.
Polizeioffizier Nour El Dine trat in das Wartezimmer und schloß hinter sich die Tür des Raums, in dem der Gerichtsmediziner immer noch den Leichnam der ermordeten Dirne untersuchte. Einen Augenblick lang blieb er regungslos stehen, blickte streng und mißtrauisch drein, schaute sich dann mit genau kalkulierter Langsamkeit im Raum um, womit er den Anschein erweckte, sich auf der Suche nach dem Schuldigen zu befinden. Das gehörte zur Routine; mit Sicherheit befand sich der Schuldige nicht im Raum. Dennoch zuckten alle Anwesenden unter dem Eindruck dieses kalten Blicks auf ihren Stühlen zusammen, und für einige Sekunden herrschte ein beängstigendes Schweigen.
Alle Mädchen des Hauses sowie drei Kunden, die unvermittelt in diese tödliche Situation geraten waren, befanden sich im Zimmer. Sie hatten keinen Grund, mißtrauisch zu sein; wie gewöhnlich hatten sie sich an der Tür gezeigt, und schon wurden sie von einem Polizisten gleich dabehalten. Seitdem beklagten die Kunden sich
Weitere Kostenlose Bücher