Gohar der Bettler
hatte diese verwerfliche Tat niemals gewollt oder geplant. Es gelang ihm nicht, den Widerspruch zwischen seinem tiefen Abscheu gegenüber Gewalt und der grausamen Gewißheit der Fakten aufzulösen. Wie ließ sich also dieses Verbrechen erklären? Daß das Schicksal ihn in eine von ihm verhöhnte, verbrecherische und gräßliche Welt zurückstoßen wollte, das mochte Gohar einfach nicht glauben. Er glaubte nicht an die Unabwendbarkeit eines Schicksals, dem man nicht entrinnen kann. War es sein Schicksal, ein ehrenwerter Professor zu sein, der die schändlichen Lügen lehrte, mit deren Hilfe eine privilegierte Klasse ein ganzes Volk unterdrückte? Und beging er etwa Verrat an seinem Schicksal, wenn er diesen Schwindel nicht mehr mitmachte? Nichts lag ferner als diese Vermutung. Zweifellos war er geprägt, das Produkt einer eingeschüchterten Zivilisation, die durch Mord prosperierte. Aber er glaubte, der Angst entkommen zu sein, zu Frieden und Ruhe zurückgefunden zu haben auf diesem noch intakten Fleckchen Erde, wo die Würde eines sich zur Freude hingezogenen Volkes sich entfaltete. Hatte er also mit seiner Flucht nichts anderes erreicht, als Mord und Schrecken zu bringen, die ihm förmlich am Leib klebten? Sollte sein Abenteuer mit einer Niederlage enden? Nein, das konnte nicht sein.
Trotzdem wußte er, daß er mit der menschlichen Gerichtsbarkeit zu rechnen hatte. Die Polizei würde sich nicht um abstrakte Überlegungen scheren; für sie war Schicksal gleichbedeutend mit dem Schwert des Henkers. Sie sah im Schicksal nichts anderes als einen Willen zur Unterdrückung, dessen einzige Funktion darin bestand, die Sklaven nicht aus ihrer Knechtschaft entkommen zu lassen. Gohar war klar, daß sie überall herumschnüffeln und ungeheure Anstrengungen unternehmen würden, deren einziges Ziel darin bestand, ihn zu fassen. Nicht etwa, weil dieser Mord an einer Prostituierten in ihren Augen eine verabscheuungswürdige und unmenschliche Tat war, sondern einfach deshalb, weil er ihre tyrannische Ordnung störte. Die Regel, nach der jedes Vergehen bestraft werden müsse, war auch so eine dieser heuchlerischen Lügen, die eine dem Untergang geweihte und verdorbene Gesellschaft als Bollwerk um sich herum errichtet hatte. Was für einen Weg er in diesen wenigen Jahren zurückgelegt hatte! Die strenge Moral, die er einst gelehrt und an die er geglaubt hatte wie an einen unveräußerlichen Reichtum, erwies sich als das unheilvollste Komplott, das je gegen ein ganzes Volk geschmiedet wurde; sie war nichts als ein Herrschaftsinstrument, mit dessen Hilfe die im Elend Lebenden in Schach gehalten wurden. Vielleicht war dieses Verbrechen letztlich nur die Buße für seine früheren Lügen, für seine blinde Komplizenschaft mit den höllischen Mächten. Auf diese Weise würde er endgültig und für immer mit allem brechen, was ihn noch mit dieser verhaßten Welt verband! Von nun an würde er zum Heer der Verfolgten gehören, die an den Rand des Schreckens gedrängt wurden, die aber ungebrochen ein gesunder Lebensmut beseelte.
Kein Gericht könnte die junge Arnaba wieder zum Leben erwecken. Er aber, Gohar, lebte. Die Polizei würde einen lebenden Feind bekämpfen müssen, einen Lebenden der allerschlimmsten Art: einen Optimisten. Sie würden es schwer haben, ihn in die Enge zu treiben. Er würde mit der ganzen Kraft seiner Passivität kämpfen, um dieses neue Leben zu bewahren, das er sich unter Aufbringung übermenschlicher Kräfte erkämpft hatte.
Wohltuender Zauber der Droge! Gohar bewegte sich in seinem Sessel, öffnete die Augen und lächelte im Dunkel.
Yeghen deutete dieses Lächeln als Zeichen dafür, daß er jetzt sprechen konnte.
»Nun, Meister, was gibt es Neues?«
»Schweig, mein Sohn, ich habe einen denkwürdigen Tag hinter mir!«
»Wieso denn das?«
Yeghen freute sich unbändig, er rieb sich die Hände und schnitt noch mehr Grimassen als sonst. Der Ton in Gohars Stimme kündigte ihm an, daß er eine außergewöhnliche Geschichte zu hören bekäme.
Gohar erzählte ihm von seinem morgendlichen Mißgeschick . Er sprach von seinem toten Nachbarn, vom schmutzigen Wasser, das sein Zimmer überschwemmt hatte, und von den gellenden Schreien der Klageweiber.
»Seit heute mittag treibe ich mich auf der Straße herum. Es war furchtbar.«
»Diese Geschichte ist so lustig«, lachte Yeghen auf, »daß sie jedes Opfer wert ist. Meister, nur du allein erlebst solche Abenteuer. Ehrlich, ich beneide dich darum.«
»Ich habe dich
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