Gohar der Bettler
überall gesucht«, sagte Gohar. »Wo hast du denn gesteckt?«
Yeghens Miene verdüsterte sich, und als würde er ein Geheimnis preisgeben, sagte er:
»Ich habe meine Mutter besucht.«
Es gab etwas, was mit der Mutter Yeghens zu tun hatte und woran Gohar sich zu erinnern versuchte. Was war es noch? Ach ja. Jetzt erinnerte er sich wieder.
»Ich habe gehört, sie sei gestorben. Ich hoffe, daß das nicht stimmt. Falls doch, mein lieber Yeghen, möchte ich dir mein aufrichtiges Beileid aussprechen.«
»Dir kann ich es ja sagen, Meister«, sagte Yeghen lachend. »Es stimmt nicht. Sie lebt noch, sie ist sogar so lebendig, daß sie mich mit ihren moralischen Ratschlägen ganz trübsinnig gemacht hat. Ich möchte ganz einfach etwas Geld zusammenbringen. Was hältst du davon?«
»Ich muß zugeben, es ist eine großartige Idee. Ich wünsche dir viel Erfolg.«
»Nicht wahr?« sagte Yeghen überglücklich. »Ich war mir sicher, daß du mir beipflichten würdest. Übrigens ist sie eine außergewöhnliche Frau.«
»Wer? Deine Mutter?«
»Ja. Sie sagt manchmal Dinge, die mir den Atem verschlagen. Und trotzdem bin ich davon überzeugt, daß sie kein Haschisch nimmt. Weißt du, was sie mir mal gesagt hat?«
»Nein, ich würde mich aber glücklich schätzen, wenn ich es erführe.«
»Ich gebe ihre Äußerung wortwörtlich wieder. Sie sagte: >Du bist jetzt alt genug, um deine Angelegenheiten mit Gott ganz allein zu regeln.< Das ist beängstigend, nicht wahr?«
»Ich verstehe nicht recht, was du meinst«, sagte Gohar.
»Sie möchte nicht mehr als Vermittlerin fungieren. Sieh mich an, Meister! Kannst du dir vielleicht vorstellen, daß ich mit Gott verhandle! Das schaffe ich niemals.«
»Was ist denn das für eine Neuigkeit? Seid wann hast du etwas mit Gott zu tun?«
»Ich persönlich hatte noch nie etwas mit ihm zu tun. Meine Mutter hat sich um alles gekümmert. Zwischen uns gab es ein stilles Abkommen. Aber jetzt ist es vorbei damit: Ich muß ganz allein zurechtkommen. Und so kam mir der Gedanke, ein wenig Geld für ihr angebliches Begräbnis zu sammeln. Das ist sie mir einfach schuldig.«
»Ich muß sagen, daß deine Argumentation tadellos ist. Trotzdem...«
Er riß Mund und Augen auf Die wunderbare Wirkung des Haschischs versetzte ihn in einen euphorischen Zustand, in dem alle Dinge eine ungewöhnliche Dimension annahmen und nichts verdächtig oder unmöglich zu sein schien. Zusammengesunken in seinem Sessel, die Hände auf den Griff des Gehstocks gelegt, den er zwischen den Beinen hielt, dachte Gohar über die seltsame Beziehung nach, die Yeghen zu Gott unterhielt. Er sah Gott ganz deutlich als einen liebenswürdigen und vornehmen Mann vor sich, wie er mit Yeghen verschiedene vertrauliche Dinge besprach. Die beiden Gesprächspartner schienen sich schon lange zu kennen, sie sagten sich sehr harte Worte direkt ins Gesicht, ohne dabei ausfällig oder laut zu werden. Aber das wirklich Sensationelle an dieser Vision bestand darin, daß Gott sehr modern gekleidet war und keinen Bart trug.
Gohar wurde von einem kurzen Lachen geschüttelt.
Der Friseurladen lag neben dem Cafe des Miroirs, am Rande eines mit Urinpfützen und Abfällen übersäten Geländes. Nachts diente er den kleinen Bettlern und Kippensammlern als Schlupfwinkel, die dort zusammengepfercht wie Tiere in einer Höhle schliefen. Jeden Morgen mußte der Friseur sie wutentbrannt mit Fußtritten und unter üblen Drohungen fortjagen. Er hätte eine Tür an seiner Hütte anbringen müssen, aber eine solche Investition sprengte den Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten. Gohar hatte diesen Ort einmal abends entdeckt, als er Ruhe suchte, und seitdem begab er sich oft dorthin, um sich an seinem paradiesischen Frieden zu erfreuen. Dieser Frisiersessel war wirklich wie geschaffen dafür, sich seinen Gedanken hinzugeben.
»Meister«, sagte Yeghen, »ich möchte dir etwas anvertrauen.«
»Ich höre.«
»Nun, ich stehe vor dir als jemand, der gerade ein Liebesabenteuer durchlebt.«
»Meinen Glückwunsch! Wer ist die glückliche Auserwählte?«
»Es ist ein Mädchen, das nicht so wie die anderen ist.«
»Da muß ich noch mal nachfragen«, sagte Gohar. »Wie ist ein Mädchen, das nicht so wie die anderen ist? Mein lieber Yeghen, ich dachte eigentlich, du würdest über ein besseres Urteilsvermögen verfügen.«
»Ich wollte sagen, sie ist keine Hure.«
»Stammt sie aus dem Bürgertum?«
»Ja. Wohl die Tochter eines Beamten.«
»Oh! Das ist ja schrecklich!
Weitere Kostenlose Bücher