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Gohar der Bettler

Gohar der Bettler

Titel: Gohar der Bettler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Cossery
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derartig phantastische und willkürliche Grenzen zogen, daß sie sich von Jahr zu Jahr veränderten. In erster Linie wunderte Gohar sich darüber, daß er seine Studenten nie nachdrücklich auf solcherlei Veränderungen hingewiesen hatte. Als würden sie sich wie von selbst ergeben; als sei eine offiziell sanktionierte Lüge zwangsläufig die Wahrheit.
    Eine solche Ansammlung von Lügen mußte zu einer vollkommenen Verwirrung führen. Und daraus resultierte eine weltweite Angst. Jetzt wußte Gohar, daß diese Angst noch keine metaphysische war. Er wußte, daß sie nicht zwangsläufig zum menschlichen Schicksal gehörte, sondern absichtlich und willentlich hervorgerufen wurde durch bestimmte Mächte, die immer schon die Klarheit und den Durchschnittsverstand bekämpft hatten. Diese Mächte betrachteten die einfachen Ideen als ihre Todfeinde. Denn nur angesichts von Obskurantismus und Chaos vermochten sie zu gedeihen. Deshalb auch versuchten sie mit allen Mitteln, die eindeutigsten Sachverhalte so widersprüchlich wie möglich darzustellen und die Vorstellung eines absurden Universums glaubwürdig erscheinen zu lassen, in der Absicht, den Fortbestand ihrer Herrschaft zu sichern. Gohar begehrte mit ganzem Herzen gegen die Konzeption eines absurden Universums auf. In Wahrheit wurden unter dem Deckmantel dieser angeblichen Absurdität der Welt alle Verbrechen begangen. Das Universum war nicht absurd, es wurde lediglich von der niederträchtigsten Bande von Schurken regiert, die jemals den Fuß auf die Erde gesetzt und sie beschmutzt hatte. Tatsächlich jedoch war diese Welt von grausamer Einfachheit, aber die großen Denker, denen die Aufgabe zufiel, sie den Laien zu erklären, konnten sich nicht dazu durchringen, sie so zu akzeptieren, wie sie war, und zwar weil sie fürchteten, für einfältig gehalten zu werden. Darüber hinaus ging man ein zu großes Risiko ein, wenn man die Dinge auf eine einfache und objektive Art und Weise erklären wollte. Es gab unerfreuliche Präzedenzfälle, die den Beweis dafür erbrachten, daß Menschen nur deshalb gefoltert wurden, weil sie für bestimmte Phänomene eine ehrliche und vernünftige Erklärung vorschlugen. Die Beispiele, die an ihnen statuiert wurden, taten ihre Wirkung; sie übten einen heilsamen Einfluß auf die nachfolgenden Generationen aus. Niemand brachte mehr den Mut auf, klare und genaue Ideen zu formulieren. Der Hermetismus des Denkens war zum einzigen Schutz gegen die Tyrannei geworden.
    Nicht das Verlangen nach einem Martyrium veranlaßte Gohar, seiner von Irrtümern geprägten Vergangenheit zu entsagen. Er hatte die Universität, wo er unterrichtete, und seine bürgerliche Wohnung im Europäischen Viertel nicht in der Absicht aufgegeben, eine neue Lehre zu verbreiten. Er hielt sich weder für einen Reformer noch für einen Propheten. Er war einfach vor der Angst geflohen, die sich seiner täglich zunehmend bemächtigte. Diese Angst hatte ganze Kontinente überzogen. Wo würde sie haltmachen? Jetzt war sie da und schlug mit ihren verheerenden Wogen an die Gestade der Insel des Friedens, auf der Gohar Zuflucht gefunden hatte. Er fragte sich, wie lange das Alte Viertel dem vergifteten Atem noch widerstehen würde. Zweifellos noch jahrelang, ein ganzes Jahrhundert vielleicht. Weder lesen noch schreiben zu können, welch wunderbare Uberlebensmöglichkeit bedeutete dies in einer Welt, die sich dem Gemetzel verschrieben hatte! Gohar war zu folgender fundamentaler Einsicht gelangt: die blutrünstige Macht besaß keine Gewalt über Menschen, die keine Zeitungen lasen. Die Angst konnte diese Menschen nicht erreichen. Das Alte Viertel war wunderbarerweise der einzige unversehrte Ort im Land, wo sich ein gesundes, von der einfachen Vernunft bestimmtes Leben entfaltete. Überall sonst regierte der aberwitzigste Irrsinn. Trotzdem war eine Ansteckungsgefahr nicht vollkommen ausgeschlossen: es gab das Radio. Die Erfindung des Radios betrachtete Gohar als das schlimmste Teufelswerk. Das Zerstörungspotential dieser kleinen Kiste, die man jetzt fast überall sah, schien ihm größer zu sein als das aller Bomben zusammengenommen.
    Es dauerte lange, bis er begriff daß in der Nachbarwohnung Ruhe eingetreten war. Er war enttäuscht, beinahe gereizt. Er spitzte die Ohren in der Erwartung, wenigstens ein kleines Geräusch aufzufangen, um zu erfahren, wie der Streit ausgegangen war. Eines jedenfalls schien sicher: das, was im Nebenzimmer passierte, war sehr viel aufschlußreicher als

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