Gohar der Bettler
ein wenig erhellt wurde. Zuerst hatte Nour El Dine den Eindruck, als sei das Zimmer leer. Aber allmählich gewöhnten sich seine Augen an das Halbdunkel, und er nahm ein Bett wahr und in diesem Bett unter den Decken die Umrisse einer menschlichen Gestalt.
»Heda! Wach auf!«
Die unter der Decke ausgestreckte Gestalt blieb so bewegungslos wie ein Leichnam. Nour El Dine begann nervös zu werden und sich zu fragen, ob der Mann vielleicht tot sei. Er trat an das Bett und hob mit einem unsäglichen Ekel die Decken hoch. Dieser Vorgang brachte den völlig nackten Körper eines so spindeldürren Mannes zum Vorschein, daß selbst das härteste Gemüt erschrocken wäre.
»Allah möge uns beschützen«, murmelte Nour El Dine.
In der Zwischenzeit mußte die Kälte, die der Schlafende empfand, weil er aufdeckt worden war, auf ihn eine größere Wirkung ausgeübt haben als ein Erdbeben, denn er erwachte, blinzelte mit den Augen, gähnte und fragte schließlich:
»Was soll denn das?«
»Polizei!« brüllte Nour El Dine, als würde er mit diesem einen Wort allen Widerstandsgeist des Schlafenden brechen wollen.
Aber das Wort »Polizei« beeindruckte den Mann im Bett offensichtlich wenig, denn während er sich anschickte weiterzuschlafen, erwiderte er vollkommen ruhig:
»Du kannst alles durchsuchen: in diesem Zimmer gibt es nicht einen Krümel Haschisch.«
»Darum geht es mir gar nicht«, sagte Nour El Dine. »Mach schon, steh auf ich will mit dir reden.«
»Mit mir reden!« rief Yeghen aus, der jetzt vollkommen wach war. »Bei Allah! Herr Offizier, womit habe ich diese Ehre verdient? Wobei kann ich dir behilflich sein?«
»Ich bin zu dir gekommen, um über einen Mordfall zu reden.«
»Einen Mord, Exzellenz! Was für ein schwarzer Tag!«
»Das kannst du wohl sagen, ein schwarzer Tag für dich.«
Yeghen warf die Decken ganz zurück und setzte sich mit gekreuzten Beinen auf sein Bett; mit seinem von der Schwindsucht gezeichneten Oberkörper, seinem knochigen Gesicht und seinen verstörten Augen ähnelte er einem durch Fasten und Kasteiungen ausgemergelten hinduistischen Fakir.
»Ein Mord!« wiederholte er. »Was habe ich mit einem Mord zu tun?«
»Das werde ich dir sagen. Aber zunächst möchte ich von dir wissen, ob du davon gehört hast, daß eines der Mädchen im Bordell von Set Amina vor ein paar Tagen erdrosselt wurde?«
»Ich habe davon gehört«, sagte Yeghen.
»Es sieht so aus, als seist du ein Stammgast des Hauses.«
»Das ist richtig.«
»Du kennst also die junge Arnaba?«
»Selbstverständlich. Sie war die Schönste im Stall.«
»Gut, da wir uns nun schon mal so problemlos verstehen, kannst du mir sagen, wo du zum Zeitpunkt des Verbrechens warst?«
Yeghen brauchte überhaupt nicht nachzudenken oder zu fragen, wann genau das Verbrechen begangen worden sei; er war sicher, daß er sich nicht täuschte. Er antwortete schmeichlerisch:
»Ich habe geschlafen, Exzellenz!«
»Wo hast du geschlafen?«
»Weiß ich doch nicht. Ich schlafe überall.«
»Du Hundesohn weißt also nichts von dieser Angelegenheit?!«
»Bei meine Ehre, nein! Ich weiß nichts. Ich könnte dir vielleicht einige Informationen über bestimmte Drogenhändler geben. Aber ein Mord! Das überschreitet nun wirklich meine Kompetenz.«
»Dann laß dir sagen, daß du der Hauptverdächtige bist.«
»Ich! Aber ich habe doch geschlafen, Exzellenz! Wie kann ein so intelligenter Offizier wie du einen solch schwerwiegenden Irrtum begehen?«
»Schluß mit den Mätzchen«, knurrte Nour El Dine. »Ich werde dich schon zum Sprechen bringen.«
Ihm war bewußt, daß er gerade albernes Zeug von sich gegeben hatte, einen dieser Allgemeinplätze, die er häufig während eines Verhörs benutzte und die, trotz der Drohung, die sie enthielten, absolut nichts bedeuteten. Die Wahrheit war, daß er sich vor lauter Ekel krank und wie dem Tode nahe fühlte. In diesem Zustand würde er niemanden zum Sprechen bringen, zumindest solange er die verpestete Luft in diesem Zimmer einatmen müßte. Er warf einen Blick auf das Fenster mit den geschlossenen Läden, wünschte sich sehnlichst, es zu öffnen, erschauderte jedoch bei dem Gedanken, das Tageslicht hereinzulassen. Das Halbdunkel kam ihm gelegen; dadurch konnte ihm Yeghen seine Verwirrung nicht anmerken. Von der Straße drang der ohrenbetäubende Lärm der Fahrzeuge, die Beschimpfungen der beinahe wahnsinnig werdenden Kutscher und das ununterbrochene Geläute der Straßenbahnen herauf, die sich verzweifelt einen
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