Gohar der Bettler
werde ich dir verabreichen.«
Auf Gohars Gesicht , das von der flackernden Flamme einer Kerze beleuchtet wurde, lag der Ausdruck von Ekstase. Mit flach auf die Knie gelegten Händen saß er auf dem einzigen Stuhl im Zimmer und neigte den Kopf zur Tür, hinter der die Nachbarwohnung lag. Was er von dort vernahm, überstieg alles, was er sich je vorzustellen gewagt hätte. Vor Erstaunen verharrte er regungslos. In dem Bewußtsein, der einzige Zeuge eines außergewöhnlichen Vorgangs zu sein, war sein Geist ungewöhnlich wach. Dieser Zustand der Ekstase dauerte bereits seit einiger Zeit an. Die Augen geschlossen, genoß Gohar mit unsäglicher Befriedigung die verschiedenen Phasen eines Ehekrachs. Jedes Wort, das auf der anderen Seite der Wand gesprochen wurde, traf ihn wie eine schillernde Wahrheit und erhellte das Dunkel seines Bewußtseins .
Seit einigen Tagen wurde die Wohnung seines verstorbenen Nachbarn von neuen Mietern bewohnt. Bei dem Paar handelte es sich um einen Mann ohne Arme und Beine, Bettler von Beruf und seine Frau, ein großes, athletisch gebautes Weib, das genauso eindrucksvoll war wie ein zehnstöckiges Gebäude. Jeden Morgen setzte sie ihren sogenannten Ehemann auf einen Gehweg im Europäischen Viertel und holte ihn bei Einbruch der Dunkelheit wieder ab, um ihn an den häuslichen Herd zurückzubringen. Gohar war ihnen einmal im Treppenhaus begegnet. Die Frau trug den Stumpf-Mann wie eine Amphore auf ihrer Schulter. Den Gruß Gohars erwiderte sie mit kräftiger und sehr tiefer Stimme, die geeignet war, das Blut in den Adern eines auch noch so unerschrockenen Menschen gefrieren zu lassen. Sie hatte ein abweisendes Gesicht und wirkte so arrogant wie nur eine verheiratete Frau wirken kann. Gohar traute seinen Ohren nicht; je länger er zuhörte, desto mehr Mühe bereitete es ihm, sich die Szene vorzustellen, die sich im Zimmer nebenan abspielte. Die Frau machte dem Stumpf-Mann eine klassische Eifersuchtsszene. Gohar hörte, wie sich der Stumpf-Mann energisch zur Wehr setzte. Er wies die Anschuldigungen der Frau zurück, um sie dann im nächsten Augenblick seinerseits zu beschimpfen, indem er sie als liederliches Frauenzimmer, Hexe und Kannibalin bezeichnete. Schließlich Fing er zu jammern an und forderte sein Essen. Seine Frau aber stellte sich taub und bestürmte ihn weiterhin mit Vorwürfen und Beschimpfungen.
Gohars Verwunderung war um so größer, als er schon seit langem glaubte, daß ihn nichts mehr überraschen könnte. Auf einen Stumpf von Mann eifersüchtig zu sein! Der weibliche Hang, alles in Besitz zu nehmen, kannte wirklich keine Grenzen. Gohar war den Frauen dankbar für das ungeheure Maß an Dummheit, mit dem sie die zwischenmenschlichen Beziehungen bereicherten. Sie waren dazu imstande, einem Esel eine Eifersuchtsszene zu machen, nur um sich interessant zu machen.
Er begann ein ziemlich lebhaftes Interesse für seine neuen Nachbarn zu entwickeln. Dieser Ehekrach eröffnete ihm, trotz seiner niederträchtigen und erbarmenswürdigen Seite, unvergleichliche Blickwinkel auf die Menschheit. Was für ein Glücksfall! Er rieb sich die Hände, dankte dem wundersamen Zufall, durch den er - ohne sein Zimmer verlassen zu müssen - am dunklen Geheimnis dieses Paares teilhaben konnte. Nicht für alle Vergnügungen der Schöpfung hätte er seinen Platz hergegeben.
Der Betrug war so offensichtlich, so allumfassend, daß der erste beste, sogar ein geistig Zurückgebliebener, ihn problemlos erkannt hätte. Immer noch warf sich Gohar seine Blindheit vor. Viele lange Jahre hatte er gebraucht, die Eintönigkeit eines ganzen den Studien gewidmeten Lebens, bevor er seine Unterrichtstätigkeit richtig zu beurteilen vermochte: ein gewaltiger Schwindel. Mehr als zwanzig Jahre lang hatte er verbrecherischen Unsinn gelehrt, junge Köpfe dem Joch einer falschen und nebulösen Philosophie unterworfen. Wie hatte er sich nur ernst nehmen können? Begriff er denn nicht, was er las? Hatte er nie den Eindruck, daß eine schamlose Heuchelei seine Reden durchzog? Welch unbegreifliche Schwäche! Und dabei mangelte es eigentlich nicht an Warnungen. Der kleinste Text über Alte oder Neue Geschichte, den er für seine Studenten kommentiert hatte, enthielt tausend Unwahrheiten. Die Geschichte! Daß man die Geschichte verfälschte, mochte ja noch hingehen. Aber die Geographie! Wie war es möglich, die Geographie zu verfälschen? Nun, sie hatten es geschafft, die Harmonie des Erdballs außer Kraft zu setzen, indem sie
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