Gold und Stein
sie und küsste sie endlich. Gern gab sie sich der tröstenden Zärtlichkeit hin, die er leider viel zu bald beendete. Ihr blieb nichts anderes, als ihm zu folgen.
Die Straßen und Gassen hatten sich geleert. Gelegentlich hockte noch ein Alter vor der Tür und unterhielt sich mit einem Nachbarn. Eine Rotte Ordensritter zog vorbei, die Lanzen erhoben, die Mienen ernst. Eilig hielten sie auf das Tor gen Westen zu. In Höhe des Marktbrunnens schwenkte Laurenz nach links ein. Die Gasse führte in einer starken Krümmung bergab.
»Da ist es!« Er wies nach rechts. Agnes blieb stehen. Das Anwesen seiner Muhme entpuppte sich als zweistöckiges Steinhaus, dessen Fenster bereits über Oberlicht aus Glas verfügten. Die Läden im Untergeschoss waren verriegelt. Neben der Eingangstür aus dickem Eichenholz fand sich das vertraute Brauzeichen. Auch das Zeichen der Bortenmacher prangte dort.
Energisch pochte Laurenz gegen die Tür. Agnes’ Herz raste. In wenigen Augenblicken würde sie jemandem gegenüberstehen, der den Geliebten schon seit ewigen Zeiten kannte. Ihre Finger glitten zum Halstuch, prüften seinen Sitz, spielten mit den Enden, landeten auf dem Mal im Nacken. Sie hob den Blick, begegnete Laurenz’ fürsorglicher Miene. Seine verschiedenfarbigen Augen leuchteten im letzten Tageslicht. Trotz ihres kurzen Streits vorhin lag wieder so viel Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit in ihnen, dass ihre Angst versiegte.
»Da seid ihr endlich!«, hörte sie eine fröhliche Stimme rufen. Erschrocken wandte sie den Kopf und blickte in das freudestrahlende Antlitz einer etwa vierzigjährigen Frau. Das Gesicht war schmal und lang. Die Nase wies denselben kecken Schwung nach oben auf wie die von Laurenz. Das Bemerkenswerteste aber war: Auch die Frau schaute ihnen aus einem grünen und einem blauen Auge entgegen.
»Liebste Muhme!«, rief Laurenz und umarmte sie herzlich. Sie waren etwa gleich groß. Dank ihrer zierlichen Figur aber wirkte die Muhme zerbrechlicher. Sie trug ein Kleid aus hellem Leinen und einen dunkelroten Surkot sowie eine weiße Flügelhaube auf dem blonden Haar. Von Laurenz’ stürmischer Umarmung verrutschte ihr die Kopfbedeckung. An der vorderen linken Stirnseite wurde ein dunkler Fleck sichtbar, aus dem einige wenige dunkle Haare sprossen.
»Das ist also das Mädchen, das du aus Wehlau gerettet hast«, erklärte sie und befreite sich aus seinen Armen, um die Haube zu richten. Neugierig wanderte ihr Blick über Agnes, blieb verwundert am Halstuch hängen. Agnes stockte der Atem. Die Muhme jedoch legte den Kopf leicht schief und breitete die Arme einladend aus.
»Komm an mein Herz, Liebes! Du ahnst nicht, wie sehr ich mich freue, dich in meinem Haus begrüßen zu dürfen.«
Ehe sie sich’s versah, drückte Agatha sie sich an die flache Brust. Ein herrlicher Duft nach Heu und Blumen hing in ihren Haaren.
»Danke, dass ich bei Euch wohnen darf«, war alles, was sie zwischen den Lippen hervorbrachte.
5
I n dieser Nacht schlief Agnes kaum. Dabei hatte sich Laurenz’ Muhme Agatha alle erdenkliche Mühe gegeben, ihr ein herzliches Willkommen zu bereiten. Doch die Angst, in wenigen Stunden ohne Laurenz in einer unbekannten Stadt bei einer fremden Frau zurückzubleiben, ließ sich nicht lindern. Ruhelos wälzte sich Agnes in ihrer Hälfte des Bettes umher. Die drückende Hitze, die auch in der Nacht noch im Gemäuer hing, tat ein Übriges. Längst hatte sie das dünne Leinentuch zurückgeschlagen. Dennoch rannen ihr die Schweißperlen den Körper hinab.
Stunde um Stunde lauschte sie den gleichmäßigen Atemzügen der Muhme dicht neben sich, ohne selbst auch nur an Schlaf denken zu können. Sie drehte sich zur Seite. Die Vorhänge an der Bettstatt waren zurückgezogen, ebenso standen die hölzernen Fensterläden weit offen. Trotzdem fiel kaum Mondlicht herein. Zu dicht und zu hoch krochen die umliegenden Gebäude an Agathas Haus heran. Im engen Hof breitete zudem ein weit ausladender Baum seine Äste aus. Das karge Mobiliar in der Stube versank im düsteren Grau der Nacht. Endlich dämmerte der Morgen. Agnes lauschte auf den anschwellenden Gesang der Vögel. Nahebei gurrten Tauben, eine Amsel kollerte ihr Rufen darüber, ein Sperling zwitscherte frech dazwischen.
Schnaufend drehte sich die Muhme neben ihr im Bett um. Das Weißzeug knisterte. Agnes erstarrte. Da war noch ein weiteres Geräusch. Angespannt spitzte sie die Ohren. Schritte! Sollte das etwa Laurenz sein? Sie setzte sich behutsam auf, wobei sie Agatha
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