Gold und Stein
Sinn. Auf einmal meinte sie die junge Gunda vor sich zu sehen, wie sie mit dem viel zu dicken Leib verzweifelt bei der Wehmutter saß und die Muhme ihr die Borte schenkte.
»Verzeih.« Tröstend berührte sie die Mutter am Arm. »Du musst keine Angst haben. Hier im Löbenicht spricht niemand schlecht über dich. Alle wundern sich nur, warum du damals so schnell verschwunden bist. Und wo der Junge ist, mein Bruder. Es waren doch zwei Kinder, denen du das Leben geschenkt hast, und beide haben gelebt, als du von hier weg bist.«
Sie war nicht sicher, ob Gunda ihr wirklich zuhörte. Sie schien an ihr vorbei ins Ungewisse zu starren.
»Was ist denn so Schlimmes geschehen, dass du bis heute nicht darüber reden kannst? Lore hat gesagt, du würdest das mir zuliebe tun. Dann hör mir zuliebe doch endlich mit den Lügen auf und verrate mir die Wahrheit.«
Gunda blieb stumm.
»Wenn du es mir nicht selbst erklären kannst, dann erlaube doch bitte der Großmutter, dass sie es mir sagt! Sie wird schon die richtigen Worte finden.«
»Deine Großmutter wird gar nichts mehr finden außer der ewigen Vereinigung mit ihrem geliebten Ewald.«
»Was?«
»Deine Großmutter ist tot.«
»Nein!« Entsetzt schlug sich Agnes die Hand vor den Mund. Sie taumelte, stieß dabei mit dem Fuß die tote Taube beiseite. Sofort sprang die Katze vor und schnappte sich den Kadaver. Im Handumdrehen war sie mit der Beute verschwunden. Ein Hund kläffte erregt, eine zweite Katze miaute empört.
Als Agnes den Blick wieder hob, um Gunda nach Lores letzten Stunden zu befragen, war sie verschwunden. Verzweifelt schaute Agnes umher, entdeckte jedoch keine Spur mehr von ihr. Es war, als wäre Gunda nie da gewesen.
19
D er Kummer drohte Agnes aufzufressen. Für immer war die Großmutter bei ihrem geliebten Ewald, so, wie sie es sich von Herzen gewünscht hatte. Doch Agnes vermochte sich nicht für sie zu freuen. Gunda war die Einzige, die ihr auf Erden geblieben war. Und ohne Lores tröstliches Vermitteln blieb ihr selbst diese fremd.
»Agnes, was ist mit dir?« Marie tauchte neben ihr auf. »Warum schaust du derart finster die Krumme Grube entlang?«
»Was? Wie?« Agnes brauchte eine Weile, bis die Worte zu ihr durchdrangen. Verwundert betrachtete sie die Magd. Marie war wie verwandelt. Ihre Wangen glühten, die hellen Augen leuchteten. Einem Schmetterling gleich hatte sie sich ihrer hässlichen Hülle entledigt und war eine schöne Frau geworden. Das hatte der Gang mit Nedas bewirkt. Agnes dachte an Griet und Ulrich. Auch die beiden waren von der Liebe zueinander ganz beseelt gewesen, ebenso wie Großmutter Lore von der ihren mit Ewald. Selbst achtzehn Jahre nach seinem Tod war sie seinetwegen noch in Verzückung geraten. Und jetzt war sie bei ihm, oben im Himmel, und hatte Agnes und Gunda für immer unten auf Erden allein gelassen. »Ach, Marie!«, schluchzte sie und warf sich der verdutzten Magd um den Hals.
»Was ist los? Du weinst, als wäre etwas ganz Furchtbares geschehen. Ist etwas mit Theres und der Meisterin? Sag schon!« Beunruhigt schälte sich Marie aus ihren Armen, wollte hineinlaufen. Da wurde Agnes gewahr, was sie angerichtet hatte.
»Nein, nein«, beeilte sie sich, die Magd zurückzuhalten. »Den beiden geht es gut. Theres ist eifrig mit den Borten für die Fischartin beschäftigt, und die Muhme hat im Haus zu tun. Verzeih, wenn ich dich erschreckt habe. Ich bin nur etwas in Aufruhr, weil ich beim Fegen eine tote Taube gefunden habe. Das heißt, erst war sie noch ganz lebendig, und ich wollte ihr helfen. Hier in der Ecke hat sie gelegen. Dann aber ist sie gestorben, und die Katze hat sie geholt.«
»Was?« Unverhofft lachte Marie los. »Du weinst wegen einer Taube? Weil die Katze sie geholt hat? Wolltest du sie etwa für die Pfanne haben? Ach, Agnes, Liebes!«
Marie legte ihr den Arm um die Schultern, drückte sie und führte sie ins Haus. Drinnen hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als Theres und Agatha von Agnes’ übertriebenem Kummer einer toten Taube wegen zu berichten. Verwundert schüttelten sie die Köpfe, die Muhme allerdings suchte forschend Agnes’ Blick. Rasch schlug sie die Augen nieder.
»Eine tote Taube – oh, welch unermesslicher Kindheitskummer!« Theres war ganz in ihrem Element. Marie versuchte, ihr Einhalt zu gebieten, doch sie war nicht zu bremsen. »Dabei war ich mir sicher, unsere Kleine wäre groß geworden und hätte ihr Herz an einen jungen Burschen verloren. Der Liebe wegen bittere Tränen zu
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