Gold und Stein
vergießen, kann ich weitaus besser nachvollziehen.«
»Begreif doch endlich: Nicht alles im Leben dreht sich nur um die Liebe«, wies Marie sie zurecht. »Gerade du, die du jahraus, jahrein vergeblich hoffst, solltest das endlich einsehen.«
»Hör sofort auf!« Theres wurde böse. »Das Glück mit Nedas zerrinnt schneller, als du denkst.«
»Und euch beiden zerrinnt die Zeit für die Arbeit schneller, als ihr denkt! Los, zurück in die Werkstatt und seht zu, dass ihr die bestellten Aufträge rechtzeitig fertig habt.«
Entschieden schob Agatha die Mägde aus der Diele und verschwand mit ihnen in der Werkstatt. Agnes hörte sie Anweisungen erteilen, dann kehrte Stille ein. Lediglich das leise Klappern von Spulen und Kurbeln sowie das sanfte Surren beim Aufwickeln des Garns waren zu hören. Kurz darauf kehrte Agatha in die Diele zurück, in der rechten Hand ein sorgfältig geschnürtes Päckchen.
»Hier, Liebes, bevor dich der Kummer über die Taube ganz zerfrisst, lauf in die Altstadt und bring der Fischartin die bestellten Borten. Sie wartet bereits ungeduldig.« Noch ehe Agnes etwas einwenden konnte, drückte sie ihr die in Leinen eingewickelten Stücke in die Hand. »Ihr Haus wirst du leicht finden. Es ist eines der prächtigsten gleich hinter dem Markt. Und hab keine Angst! Auch wenn Theres so getan hat, als wäre die Fischartin ein englisch fluchendes Ungeheuer, so ist sie doch harmlos. Das Heimweh nach ihrer Londoner Heimat macht sie gelegentlich etwas wunderlich. Wer weiß, wie unsereins sich verhalten würde, wenn er fernab der vertrauten Familie und Umgebung leben müsste?« Einen Moment ruhte ihr Blick auf Agnes. »Vielleicht hast du Glück und triffst ihren Sohn. Er wird dir gefallen. Er ist sehr klug. Du wirst ihn mögen. Er dürfte in etwa in deinem Alter sein. Ein bisschen Ablenkung wird dir guttun.«
Aufmunternd tätschelte sie ihr die Schulter. Agnes spürte die Schamesröte heiß auf ihren Wangen. Wieder einmal fragte sie sich, ob die Muhme Gedanken lesen konnte.
Verwirrt und verlegen zugleich hastete sie davon, die Krumme Grube hinunter und unten auf der Löbenichter Langgasse gleich nach rechts hinüber zur Altstadt. Jeder Schritt, der sie von dem Haus der Muhme weiter weg und Caspar näher brachte, ließ ihr das Geschehen der letzten Stunden unwirklicher erscheinen. Bald wollte sie gar nicht mehr glauben, die Mutter getroffen und die Nachricht von Lores Tod erhalten zu haben. Das Einzige, was noch zählte, war, Caspar wiederzusehen und ihn nach den seltsamen Geschäften zu fragen, mit denen Gunda seinem Vater zu Leibe rücken wollte.
Tatsächlich fand sie das Haus der Fischarts auf Anhieb. Im Reigen der aufwendig verzierten und gestalteten Kaufmannsgebäude rund um den Altstädter Markt und die Langgasse stach es eigenwillig heraus. Sein Stufengiebel ragte am höchsten und spitzesten in den Himmel. Prächtige Steinfiguren zierten jede einzelne Stufe, obenauf thronte gar ein goldener Wetterhahn. Einen solch reichen Gebäudeschmuck kannte Agnes bislang nur von Kirchen und Rathäusern. Die Fischarts mussten viel gelten, wenn sie mitten in der Königsberger Altstadt in einem derart auffallenden Haus wohnten.
Bangen Herzens klopfte sie. Es dauerte lange, bis sie schlurfende Schritte hinter der schweren Holztür vernahm. Eine dürre alte Frau mit krummem Buckel, das lichte Haar von einer imposanten Flügelhaube bedeckt, öffnete. Schon wollte Agnes betont laut ihr Anliegen vorbringen, da schauten sie zwei wache graue Augen so durchdringend an, dass sie sofort ehrfürchtig verstummte. Verständig nickte die Alte, hieß sie mit einer einladenden Handbewegung eintreten und schlurfte wieder davon.
In der riesigen Diele herrschte reges Treiben. Niemand achtete auf Agnes. Dicht an der doppelflügeligen Eingangstür blieb sie stehen und sah sich um. Welch wundervolle Diele für einen großen Sudkessel! Mit Leichtigkeit ließe sich in dem kühlen, von mehreren Kreuzgewölben überspannten Raum Bier brauen. Selbst die Verbindung zum Keller war ausreichend groß, um die Fässer ohne Mühe in die Tiefe zu schaffen. Ebenso konnte ein Fuhrwerk zum Aufladen bequem in die Diele fahren. Verzückt wanderte ihr Blick weiter. Von einem Podest aus beaufsichtigte ein Schreiber mehrere Ablader, die prall gefüllte Säcke sortierten. Jedes Mal, wenn sie einen auf dem Boden abstellten, markierte er das mit einem bedeutungsvollen Strich auf seiner Schiefertafel. Die Männer arbeiteten schweigend. Die Säcke schienen
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