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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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gehorchte und landete unsanft auf dem Boden, bevor er wusste, was geschehen war. Er brauchte einen Augenblick, bis sein Zwerchfell wieder normal arbeitete, dann ergriff er die ausgestreckte Hand des Abts, um aufzustehen.
    Und landete erneut auf dem weichen Grasboden.
    Diesmal kroch er aus der Reichweite der unberechenbaren Hände und rappelte sich ohne Hilfe auf.
    Xiu Dao Yuan verbeugte sich.
    Er auch.
    »Alles hat zwei Seiten, baixi long . Bedenkt das. Und übt.«
     
    Er tat wie geheißen, denn es lenkte ihn von dem ab, was fordernd an die Oberfläche kommen wollte. Er war gesund, er hatte ein Haus, er hatte ein Geschäft und Verpflichtungen. Er hatte keinen Grund mehr, im Kloster zu bleiben und der Gemeinschaft dort zur Last zu fallen. Aber auf der anderen Seite sträubte sich alles in ihm dagegen, den Ort der Zuflucht, der Weltflucht, zu verlassen und sich den Anforderungen des westlichen Lebens zu stellen.Wann immer George Liu zu ihm kam und Nachrichten brachte, mahnte ihn sein Gewissen. Und immer wieder flüchtete er sich zu den Seidenhäusern, haspelte Kokons ab, versuchte, die Bewegungen seiner qi -Übungen zu vervollkommnen.
    Alles, aber auch alles war zum Verzweifeln. Hatte er geglaubt, die Schritte, Haltungen und Formen zu beherrschen, so erschienen sie ihm jetzt verkrampft und unharmonisch. Seine Gelenke schmerzten, seine Muskeln verhärteten sich, sein Atem wollte nicht mehr fließen. Genauso war es bei den Kokons. Nie gelang es ihm, einen Faden an den nächsten anzuknüpfen, obwohl die von den Raupen gesponnenen Fasern mit einem feinen Klebstoff überzogen waren, der die einzelnen Fäden zusammenzuschweißen schien.
    Unbefriedigt saß er abends vor dem Lackkästchen, in dem die
kaiserliche Raupe ihre Puppe gesponnen hatte, und grollte mit sich. Zudem hatte es Ärger unter den Mönchen gegeben, und einige von ihnen hatten, wie er aus dem ihm genüsslich hinterbrachten Geschwätz entnehmen konnte, gefordert, er solle allmählich verschwinden, und außerdem sei es Zeit, dass er dem Kloster ein ausreichend großes Geschenk machte. Man neidete ihm die Aufmerksamkeit, die der Abt ihm schenkte, man misstraute seiner fremden Herkunft, man beschuldigte ihn der Gefräßigkeit, man betrachtete seine Verbindung zu der Tsun Mou argwöhnisch und unterstellte ihm Lüsternheit im Umgang mit den Frauen. Gut, er war nicht völlig unberührt geblieben von der weiblichen Gesellschaft, und nachts dachte er oft an Ai Ling. Obwohl sie seinen Tod gewollt hatte, vermisste er ihren zarten, biegsamen Körper und ihre erlesenen Zärtlichkeiten. Aber natürlich hatte er sich keiner der Seidenfrauen auch nur im Entferntesten lüstern genähert, hier waren wohl Neid und eigenes Wunschdenken die Ursache der Spekulationen.
    Nun ja, die Klostergemeinschaft war kein Hort menschlicher Vollkommenheit und Erleuchtung, sondern eine ganz normale Gemeinschaft unterschiedlicher Charaktere, die ihre Schwächen und Fehler hatten.
    Er sollte gehen. Doch gleich dem Pirol, der nicht von der Schulter des Abtes fliegen konnte, weil er keinen Widerstand fand, hielt es ihn gefangen in seinem selbst auferlegten Ehrgeiz, die Seide zu meistern.
    Der Juni schritt voran, und es wurde wärmer. Auch die letzten Nachzüglerraupen hatten sich inzwischen verpuppt, und immer weniger Kokons mussten abgehaspelt werden. Einige Male hatte er mit dem Gedanken gespielt, die kaiserliche Raupe mitzunehmen und im kochenden Wasser zu töten, aber ein eigensinniges Gefühl der Zugehörigkeit zu dem Tierchen hielt ihn zurück. Und daher konnte er nach vierzehn Tagen beobachten, wie an einem Ende des flauschigen Seidenballs eine Flüssigkeit austrat.
    Es hatte eine Veränderung stattgefunden, und sie wurde noch
beeindruckender, als das Loch in dem Kokon größer wurde und schließlich ein paar haarige Beine hervorkamen. Am Abend dann schließlich war der Schmetterling geschlüpft und saß, benommen von seiner neuen Freiheit, in dem geöffneten Lackkästchen. Langsam entfaltete er seine graubraunen Flügel über seinem pelzigen Leib.
    Vorsichtig, sehr vorsichtig hob er den Falter aus seinem Gemach und setzte ihn sich auf den Handrücken. Mit ihm zusammen trat er ins Freie und hob den Arm in die Luft, um ihn zum Fliegen zu ermutigen.
    Und dann war es plötzlich so einfach.
    Immer wenn der Schmetterling aufsteigen wollte, gab er kaum merklich nach, und der Seidenspinner blieb flatternd auf seiner Hand sitzen.
    Dreimal, viermal gelang es ihm, dann ließ er den kaiserlichen Falter

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