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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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ich wusste, dass sie Papas und NaiNais Vergangenheit benutzen würden, um mich zu quälen.
    Im Gegensatz zu den Bauerntöchtern, die schwer arbeiten mussten und zu erschöpft für andere Dinge waren, hatten die Stadtmädchen aus Chinkiang genügend freie Zeit. Ihre Eltern waren meistens Ladenbesitzer oder Händler. Diese Mädchen taten gern, als seien sie Großstädterinnen, obwohl sie kaum etwas über große Städte wie Shanghai wussten, wo Carie vor Pearls Geburt gelebt hatte. Die Mädchen aus Chinkiang sahen auf die Bauerntöchter herab. Sie machten sich über ihre unzivilisierten Gewohnheiten lustig und vergaßen, dass sie nicht viel anders waren.
    Ich hatte vor langem akzeptiert, dass mich die Stadtmädchen seltsam fanden. Nach Mädchenkrieg war mir nicht zumute. Seit meiner Freundschaft mit Pearl war ich zu ihrer Zielscheibe geworden. Es machte sie wahnsinnig, dass Pearl und ich uns so gut verstanden, und sie beobachteten uns neidisch und eifersüchtig. Doch nun hatte ich Probleme. Es gelang mir nicht, in ihren Kreis einzudringen. Ich fürchtete, alle würden denken, ich sei ausgestoßen worden.
    Eines Nachmittags spielte ich mit ihnen Karten. Mein Herz sehnte sich nach Pearl. In ein paar Tagen würde sie abreisen, und ich wollte mit ihr zusammen sein. Ich zwang mich, auf die Karten zu achten, und erwischte ein Mädchen beim Schummeln. Sie leugnete es, und wir stritten. Obwohl sie nicht aggressiv war und auch nichts sagte, um meine Wut zu provozieren, warf ich die Karten hin und beendete das Spiel. Ich nannte das Mädchen eine Lügnerin, deckte Schritt für Schritt ihren Betrug auf und schlug auf sie ein. Sie war beschämt und schlug zurück. Keiner konnte uns auseinanderbringen, dazu musste erst Pearl kommen.
    Pearl wusste, dass es nicht meine Art war, mich mit anderen zu schlagen. Sie wusste, dass mir ihre bevorstehende Abreise zu schaffen machte. Vorsichtig wischte sie mir mit dem Taschentuch das Blut von der Stirn. Die linke Wange, wo meine Gegnerin mich mit den Fingernägeln gekratzt hatte, schwoll an. Pearl betrachtete mich aus sanften blauen Augen und seufzte.
    »Ich brauche dich nicht«, sagte ich.
    »Tut es weh?«, fragte sie.
    »Nein.«
    »Wir sehen uns doch bald wieder«, sagte sie mit leiser Stimme.
    »Aber wann? Wann kommst du zurück?«, rief ich aus.
    Diese Frage konnte sie nicht beantworten.
     
    Es war ein heiterer Tag, an dem das Dampfschiff den Jangtse herunterkam und Pearl und ihre Familie mitnahm. Auf dem Pier hatten sich viele Einwohner Chinkiangs versammelt, um Abschied zu nehmen, auch NaiNai, Zimmermann Chan, Lilac und ihre Zwillinge, Doppeltes Glück David und Doppeltes Glück John sowie ihr neugeborener Sohn. Vor kurzem hatte Absalom die Jungen getauft und dem Neugeborenen den Namen Dreifaches Glück Salomon gegeben.
    Absalom nahm Zimmermann Chan das Versprechen ab, am ersten Stock der neuen Schule so lange weiterzuarbeiten, bis alles fertig war. Mit einem Bibelzitat ermutigte er ihn:
»Das ist das Feueropfer, das ihr dem Herrn darbringen sollt.«
    Zimmermann Chan nickte und gab ihm sein Wort.
    Wang Ah-ma flehte Carie an, sie mitzunehmen.
    »Der Entschluss meines Mannes steht fest«, erklärte ihr Carie unter Tränen. »Sie müssen Ihren eigenen Weg gehen. Wir haben kein Geld mehr, Sie zu bezahlen.«
    »Ich arbeite umsonst!« Wang Ah-ma steckte sich den Blusenzipfel in den Mund, um nicht loszuheulen. »Ich koste kein Geld. Ich habe niemanden, zu dem ich gehen kann. Sie und die Kinder sind meine Familie.«
    Die Schauspieler der Operntruppe Wan Wan kamen. Viele von ihnen, auch die hässliche Dame mit dem Schildkrötengesicht, hatte Absalom zu Christen bekehrt. »Schauspieler reisen umher«, hatte Absalom Papa gesagt. »Sie eignen sich hervorragend, um das Evangelium zu verbreiten.«
    Die Schauspieler wünschten Pearls Familie eine sichere Reise und sangen ihr neues Lied, eine vertonte Bibelstelle:
    Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang
    Und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit.
    Pearl versprach wiederzukommen, aber wir beide wussten, dass das sehr unwahrscheinlich war. Die Boxer näherten sich der Küste und würden schon bald Shanghai erreichen. Amerika war der Ort, wo Carie und ihre Familie sich am Ende niederlassen würden.
    Pearl und ich versuchten, freundliche Abschiedsworte zu finden, doch das war unmöglich.
    Wir sagten Lebewohl und umarmten uns schweigend.
    Das Dampfschiff schlug hohe Wellen, als es vom Pier ablegte.
    Ich winkte. Tränen liefen mir

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