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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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waren, geliehen. Die Hose war aus Wolle. »Das ist die Reithose seiner Tochter«, erklärte Pearl.
    Ich fragte, warum sie das angezogen hatte. »Wir spielen unser eigenes ›Boxer und Ausländer‹-Spiel«, antwortete sie und gab mir einen roten Schal. »Das ist dein Kostüm, bind ihn dir um den Kopf. Du bist der Boxer und ich der Ausländer.«
    Damit sie äußerlich noch besser ihrer Rolle entsprach, nahm sie die schwarze Strickmütze ab und trug ihr taillenlanges blondes Haar offen.
    Ich war von ihrer Idee begeistert und band mir den roten Schal wie einen Turban um den Kopf.
    Mit Holzstöcken als Schwerter in der Hand, rannten wir den Hügel hinunter. Die Jungen starrten Pearl fassungslos an.
    »Ein richtiger ausländischer Teufel!«, schrien sie.
    Es dauerte nicht lange, und andere Kinder wollten bei uns mitspielen. Pearl führte die ausländischen Truppen an und ich die Boxer.
    Wir warfen Steine, rannten über die Hügel und versteckten uns hinter Büschen. Am Nachmittag kletterten meine Mitspieler auf Dächer, während Pearl von Haustür zu Haustür ging und nach uns suchte. Bis in die Dunkelheit hinein durchstreiften wir die Straßen.
    Als es Zeit wurde, die Boxer gefangen zu nehmen, ließ sich meine Gruppe von Pearls Leuten die Hände auf dem Rücken zusammenbinden. Wir stellten uns in einer Reihe auf, um uns hinrichten zu lassen. Pearl gab jedem von uns ein imaginäres Glas Wein. Wir taten, als würden wir es trinken, und sagten unseren letzten Wunsch. Als die Schüsse fielen, ließen wir uns auf den Boden fallen und blieben so lange tot, bis Pearl verkündete, dass nun die Ausländer gefangen werden sollten.
    Meine Gruppe jagte hinter ihnen her, bis sie Pearl erwischten. Wir banden die Ausländer aneinander wie Krebse an einer Schnur und zogen sie durch die Straßen. Dabei luden wir alle ein, der Hinrichtung beizuwohnen. Pearl machte es großen Spaß, auf Englisch rumzuschreien. Zuerst waren die Dorfbewohner entsetzt, dann applaudierten sie und lachten mit uns.

8 . Kapitel
    B
eim Sonntagsgottesdienst kündigte Absalom die Abreise seiner Familie an. »Gottes Sieg ist gewiss«, waren seine Abschiedsworte an die Gemeinde. Er versprach zurückzukommen, sobald sich seine Familie in Shanghai niedergelassen hätte.
    »Wenn der Baum fällt, laufen die Affen in alle Richtungen davon«, sagte Papa. Er machte sich Sorgen.
    Gemeinsam mit Absalom packten die Konvertiten die Wertgegenstände aus der Kirche zusammen und versteckten sie in ihren Häusern. Caries Klavier war ein großes Problem. Man konnte es unmöglich verstecken. Papa schlug vor, Kaiser Kohlkopf und seine Verbündeten um Hilfe zu bitten. Die Kriegsherren waren Feinde der Boxer.
    »Ein kluges Kaninchen buddelt sich zur Sicherheit drei Löcher«, waren Papas erste Worte zu Kaiser Kohlkopf. »Wenn ich Sie wäre, würde ich diese Gelegenheit ergreifen und mich mit dem fremden Gott anfreunden.« Dann erzählte ihm Papa, wie die Kriegsflotte aus dem Westen vor kurzem die kaiserliche chinesische Flotte zerstört hatte.
    Kaiser Kohlkopf nahm Caries Klavier und versteckte es im Haus seiner Konkubine.
    Carie war erleichtert und dankte Papa. Ein letztes Mal beschnitt sie ihre Rosen und brachte den Garten in Ordnung. Als sie ihre Pflanzen goss, brach sie zusammen und saß weinend auf dem Boden.
    Pearl und ich gaben uns gegenseitig ein Abschiedsgeschenk. Sie bekam von mir einen rosa Seidenfächer, der mit Blumen bemalt war. Ich bekam von ihr eine Haarnadel mit einem silbernen Phönix. Sie wollten in zehn Tagen abreisen, vielleicht auch früher.
     
    An diesem Abend lag ich im Bett und wartete auf den Schlaf. Doch meine Augen fielen nicht zu, und ich wälzte mich bis zum Morgengrauen umher. NaiNai sagte, ich sollte Pearl vergessen und mit den anderen Mädchen in der Stadt spielen. In den nächsten Tagen versuchte ich es, aber mit wenig Erfolg. Die Leute hier wollten meine Freundschaft nicht. Seit ich in die Kirchenschule ging, hatte ich mich verändert. Ich mochte die Stadtmädchen nicht, fand sie engstirnig und oberflächlich. Ich konnte nicht anders, als sie mit Pearl zu vergleichen, die freundlich war, neugierig und klug. Die Stadtmädchen stritten um Lebensmittel und Territorien, und sie bekämpften sich untereinander. An nur einem Tag waren sie beste Freundinnen, schlimmste Feindinnen und wieder beste Freundinnen. Oft griffen sie sich eine heraus, erklärten sie zur momentanen Feindin und taten ihr weh, indem sie sie beleidigten. Ich ging ihnen aus dem Weg, weil

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