Goldener Bambus
Kohlkopf, General Hummer und General Krebs.
»Alter Lehrer!«, schrien die Konvertiten.
Die Boxer legten unbeirrt die Schlinge um Papas Hals.
»Stoppt die Hinrichtung!« Absalom blieb vor den Boxern stehen. »Hier ist eine Abschrift des Dekrets der Kaiserinwitwe! Ihre Hoheit hat ein Friedensabkommen mit den ausländischen Truppen unterzeichnet. Der achte Punkt der Vereinbarung lautet:
Ausländische Missionare und ihre Konvertiten stehen unter Schutz.
«
Es sollten fünf weitere Jahre vergehen, bis Pearl und ich uns wiedersahen. Da war ich neunzehn und Pearl siebzehn Jahre alt. Kurz zuvor war unsere Herrscherin, die Kaiserinwitwe Tzu Hsi, gestorben. Es hieß, der Kampf gegen den Flächenbrand, den die Rebellion der Boxer entfacht hatte, hätte alle ihre Kräfte geraubt. Der von ihr ernannte neue Kaiser war erst drei Jahre alt. Die Nation versank in eine lange Phase der Trauer um die Kaiserinwitwe. In unserer Stadt hatte sich nichts geändert, doch man sagte, das Land wäre wie ein kopfloser Drache.
Am Tag von Pearls und Caries Rückkehr nach Chinkiang ging ich zum Pier, um sie zu begrüßen. Ich war nervös, denn ich sah jetzt anders aus. An meiner Kleidung und meinem Haarstil sah man, dass ich eine verheiratete Frau war. Anstelle eines Zopfes trug ich einen Knoten im Nacken. In meinen Briefen an Pearl hatte ich es vermieden, über mein Eheleben zu schreiben. Was hätte ich auch sagen sollen? Dass ich sofort bei Betreten seines Hauses wusste, dass mein Ehemann opiumsüchtig war? Die Kupplerin hatte gelogen. Von seinem Vermögen war schon lange nichts mehr da, seine Familie glich einem reich bestickten, von Motten zerfressenen Abendkleid. Er hatte so viele Schulden, dass die Dienerschaft weggelaufen war, und das Geld für die Mitgift hatte er sich geliehen. Die Heirat war die Idee meiner Schwiegermutter gewesen. So wurden »zwei Fliegen mit einer Klappe« geschlagen: Ihr Sohn bekam eine Konkubine und sie eine kostenlose Dienerin.
Ich lebte, um meinem Mann, seiner Mutter, seinen älteren Frauen und Kindern zu dienen, reinigte Betten, leerte Nachttöpfe, wusch Laken und fegte die Höfe. Um Pearl und Carie zu treffen, musste ich mich heimlich davonschleichen. Mein Mann hätte es mir nie erlaubt.
Pearl war zu einer atemberaubenden Schönheit geworden: groß, schlank und in westliche Kleider gehüllt. Sie hatte die Ausstrahlung eines freien Geistes. Ihr Lächeln war wie Sonnenschein.
»Weide, meine Freundin!«, rief sie aus hundert Metern Entfernung, die Arme weit ausgebreitet. »Was für eine hübsche Dame du geworden bist!«
»Willkommen zu Hause«, war alles, was ich herausbrachte.
Mit einem strahlenden Lächeln schloss Pearl mich in die Arme. »O Weide, ich habe dich so sehr vermisst!«
Papa, Zimmermann Chan und andere trafen ein. Wir halfen, das Gepäck in das neu gemietete Haus von Absalom zu tragen. Es hatte einem Kaufmann gehört und lag oben auf einem Hügel.
»Was für ein schönes Haus!«, rief Pearl begeistert aus. »Vater, wie kommt es, dass du uns solch einen Luxus gestattest?«
»Es ist ein Geisterhaus«, erklärte Absalom. »Kein Einheimischer will hier wohnen, und die Miete ist sehr niedrig. Da ich nicht an chinesische Geister glaube, hab ich einfach die Gelegenheit ergriffen.«
Sobald Pearl sich eingerichtet hatte, machten wir uns auf zu den Hügeln. Pearls jüngere Schwester, Grace, wäre gern mitgekommen, doch wir wollten allein sein. Pearl erzählte, dass Shanghai flach sei und die Berge und Hügel ihr gefehlt hätten. Sie konnte es nicht abwarten, endlich wieder wandern zu gehen. Sie sprach von Ideen, die mir vollkommen neu waren, und beschrieb eine Welt, die ich mir kaum vorstellen konnte. Ihr Wortschatz in Mandarin war umfangreicher geworden. Sie erzählte mir, dass sie bald aufs College in Amerika gehen würde. »Danach will ich die ganze Welt bereisen!«
Ich hatte nicht viel zu erzählen und berichtete nur, wie wir die Boxer überlebt hatten. Mitten in meiner Geschichte brach ich ab.
»Was ist los?«, fragte Pearl.
»Nichts.«
»Weide«, sagte sie sanft.
Ich gebot mir, zu lächeln und die dunklen Gedanken beiseitezuschieben, doch meine Tränen verrieten mich.
»Ist es deine Ehe?«, fragte sie und griff nach meiner Hand.
Für eine Chinesin war mein Eheleben nicht ungewöhnlich, doch für Pearls Ohren war es unerträglich.
Ich erzählte ihr, dass mein Mann an guten Tagen rauchte und spielte. An schlechten Tagen ließ er seine Wut an mir aus, schlug mich, und manchmal
Weitere Kostenlose Bücher