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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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nicht in den Sinn. Pearl mochte die Menschen aus dem Westen nicht. Sie hatte die Opiumsüchtigen in unserer Stadt gesehen und kritisierte die Weißen, die mit Opium handelten. Für sie hatte der Kampf der Boxer nichts mit ihr zu tun.
    Aber die Zeiten hatten sich verändert. In den nördlichen Provinzen waren schon ausländische Missionare ermordet worden. Carie achtete darauf, dass Pearl sich wie ein chinesisches Mädchen kleidete und zu allen Zeiten die schwarze Strickmütze trug.
    Eines Tages erzählte mir Pearl, dass Carie ihre Abreise vorbereitete. »Mutter sagt, dass ein Schiff kommen wird und uns zurück nach Amerika bringt.«
    Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
    Pearl wirkte durcheinander und nervös.
    »Aber … du kennst Amerika doch gar nicht«, brachte ich schließlich hervor.
    »Mutter sagt, Amerika ist der Ort, wo ich hingehöre«, erwiderte Pearl emotionslos. »Wenigstens sehe ich dann wie alle anderen aus. Mir reicht es, immer die verdammte schwarze Strickmütze zu tragen! Sobald wir in Amerika ankommen, verbrenne ich das Ding.«
    »Aber du hast gesagt, du kennst niemanden in Amerika«, beharrte ich.
    »Stimmt.«
    »Gehst du trotzdem?«
    »Mutter redet mir zwar ständig gut zu, aber freuen tue ich mich nicht drauf.«
    »Es ist Caries Wunsch, China zu verlassen, nicht deiner!« Ich versuchte, gelassen zu klingen, aber das war unmöglich. Mir war zum Heulen zumute. »In Amerika findest du nicht so eine Freundin wie mich!«
    »Vielleicht nicht, obwohl Mutter es mir versprochen hat.«
    »Sie lügt.« Ich lachte verächtlich. »Du wärst dumm, das zu glauben.«
    »Aber ich kann nicht bleiben, wenn Mutter geht.«
    In den nächsten Wochen war die Abreise unser einziges Thema. Doch je mehr wir darüber sprachen, desto schlimmer wurde das Gefühl des drohenden Unheils. Obwohl wir taten, als würde es niemals so weit kommen, und lachend die Hügel rauf und runter liefen, holte die Wirklichkeit uns immer wieder ein. Zum Beispiel war Wang Ah-ma tief betrübt, weil Carie ihr gesagt hatte, dass sie bald ihren eigenen Weg gehen müsste. Die schwangere Lilac und Zimmermann Chan besuchten Papa und NaiNai, um ihnen von neuen Morden an ausländischen Missionaren zu berichten.
    Pearl und ich erfuhren, dass sich immer mehr Menschen den Boxern anschlossen und forderten, dass die kaiserliche Regierung alle Ausländer aus dem Land werfen und ihre Geschäfte in China für immer schließen sollte. Als die Regierung nicht reagierte, fingen sie an, ausländische Banken und Gebäude zu stürmen und die Eisenbahnstrecken im Land zu zerstören. In den Nachbarstädten störten sie den Gottesdienst in den christlichen Kirchen. Ausländische Missionare wurden aus ihren Häusern geholt und öffentlich gefoltert. Als Pearl und ich davon hörten, wussten wir, dass unsere gemeinsamen Tage gezählt waren.
    Pearl fing an, öfter von ihrem »wahren Zuhause« in Amerika zu sprechen, worauf ich zynisch und gereizt reagierte.
    »Wahres Zuhause?«, höhnte ich. »Ich wette, du wirst nicht einmal wissen, wo dein Hauseingang sein muss.« Ich fragte Pearl, ob sie das Feng-Shui ihres amerikanischen Zuhauses kannte, und war höchst zufrieden, als sie keine Antwort darauf hatte.
    »Dein Haus könnte in die falsche Richtung zeigen. Dann wirst du das Unglück nie wieder los!«
    »Und wenn ich dir sage, dass es mir piepegal ist, ob mein amerikanisches Zuhause das falsche Feng-Shui hat?« Sie hob einen Stein auf und warf ihn runter ins Tal. »Es wird das Zuhause meiner Mutter sein, nicht meins.«
    »Aber du wirst darin wohnen. Du wirst einsam und unglücklich sein, weil du es besser weißt!«
    »Meine Cousins werden mir Gesellschaft leisten«, konterte sie.
    Ich lachte und sagte, ihre Cousins würden vielleicht ihren Namen kennen, aber keine Ahnung haben, wer sie sei und was sie gern habe. »Du interessierst sie nicht. Du bist eine Fremde für sie.«
    »Hör auf damit, Weide, bitte!«, flehte sie.
    Wir saßen schweigend da und schluckten unsere Tränen herunter.
     
    Die Nachrichten über die Boxer wurden immer schlimmer. Man hatte schon welche in Suzhou gesichtet, kaum zweihundert Kilometer von Chinkiang entfernt. Carie wollte sich wenigstens vorübergehend woanders niederlassen, doch Absalom war strikt dagegen.
    »Ich werde das Werk Gottes nicht aufgeben«, lautete seine Antwort.
    Carie drohte, auch allein wegzugehen und Pearl und Grace mitzunehmen.
    »Mutter hat gesagt, ich muss lernen, Gott zu vertrauen und

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