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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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sie stolz auf ihre volle Figur war. Ich erinnerte mich noch gut, dass sie sich wegen ihrer wachsenden Brüste unwohl gefühlt hatte.
    Lossing war etwa so alt wie Pearl, also sechsundzwanzig. Er hatte ein längliches Gesicht mit einem großen quadratischen Kinn. Seine Lippen waren schmal und die Nase groß, die tiefliegenden Augen braun. Er war freundlich und entschuldigte sich, dass er kein Chinesisch sprach.
    »Wo ist Mutter?«, fragte Pearl.
    »Sie ist im Bahnhof und –« Mitten in meinem Satz sah ich das Lächeln in Pearls Gesicht gefrieren, und Entsetzen zeichnete sich darin ab. Sie hatte an mir vorbeigesehen und Carie erblickt, die aus dem Gebäude getreten war.
    Später erzählte mir Pearl, wie schmerzlich der Anblick ihrer Mutter für sie gewesen war. Ich hätte sie vorwarnen müssen, dass Carie inzwischen auf die Größe eines Kindes geschrumpft war.
    Zwar hatte sie ihr Gesicht gepudert, Rouge aufgetragen und die Lippen geschminkt, doch es half nichts. Sie war schwerkrank und sah aus wie ein Gespenst. Wegen der fehlenden Zähne waren ihre Wangen eingefallen, so dass es schien, als würde sie sie permanent einziehen. Ihre Haut war trocken und wächsern. Sie hatte darauf bestanden, sich die Augenbrauen selbst nachzuziehen, und jetzt war die rechte höher als die linke.
    »Mutter!«, rief Pearl, lief zu ihr hin und umarmte sie.
    Mit tränennassem Gesicht sagte Carie lächelnd: »Gott sei gelobt, meine Tochter.«
    Sie stand aufrecht da, als sei sie völlig gesund. »Gehen wir«, sagte sie. »Dein Vater wartet in Chinkiang.« Sie erzählte Pearl und Lossing, dass sie schon alle Hochzeitsvorbereitungen getroffen hatte.
     
    Im Zug zurück nach Chinkiang schlief Carie an Lossings Schulter ein. Ich saß mit Pearl auf der anderen Seite des Gangs und wollte unbedingt die Geschichte ihrer Liebe hören. Sie hatte Lossing auf einem Schiff kennengelernt. Er machte gerade eine Sprachreise nach China, und sie kehrte von Amerika über Europa nach China zurück. In den Wochen der Überfahrt freundeten sie sich an.
    »Wie hat er um dich geworben?«, fragte ich.
    »Mit seinen Chinastudien«, sagte sie lachend. »Lossing beschreibt in seiner wissenschaftlichen Arbeit, was er in China machen will. Der Titel seiner Doktorarbeit lautet
Landwirtschaft und Landnutzung in China
. Er hat vor, in China zu leben und verschiedene Dinge auszuprobieren, die den Bauern helfen sollen.«
    Ich konnte mir gut vorstellen, wie er das Herz meiner Freundin im Sturm erobert hatte.
    »Als Lossing mir erzählte, dass die chinesischen Bauern sich nicht länger krumm und bucklig arbeiten müssen, wenn seine Methoden erfolgreich sind, habe ich mich in ihn verliebt. Und ihn faszinierte die Tatsache, dass ich in China aufgewachsen bin. Als ihm klarwurde, wie viele chinesische Dialekte ich sprach, hat er mir sofort einen Antrag gemacht.«
    »Wann hast du ja gesagt?«, wollte ich wissen.
    »Gleich nachdem ich gemerkt habe, dass Lossing mit seinem Chinesisch nicht weit kommen würde. Er hat kein musikalisches Gehör, und wie soll man da Chinesisch lernen?«
    »Er braucht dich also.«
    »Und ich brauche ihn auch. Um ehrlich zu sein, in Amerika habe ich mich kein einziges Mal in einen Mann verliebt.« Pearl erzählte, sie hätte sich zwar bemüht, in Amerika jemanden kennenzulernen, sich aber wie eine Fremde gefühlt. »Ich habe zwar Englisch gesprochen, aber die Kultur nicht verstanden. Ich fühlte mich deplatziert und verwirrt. Was in China als unhöflich gilt, war für Amerikaner attraktiv. Meine Verwandten fanden mich seltsam, und ich fand sie seltsam. Nach außen hin war alles in Ordnung, aber innerlich war ich vier Jahre lang einsam. Ich hatte schon Angst, nie einen Mann genug zu lieben, um ihn heiraten zu wollen. Und die ganze Zeit sagte mein chinesischer Kopf, ich müsse mich beeilen, sonst würde ich als alte Jungfer enden.«
    »Lossings Timing war perfekt«, bemerkte ich.
    »Ja, China hat uns zusammengebracht. Gott hat meine Gebete erhört. Lossing und ich können uns glücklich schätzen!«
    Ich hoffte für Pearl, dass das stimmte.
    Da ich annahm, dass sie aus Amerika zurückgekommen war, um sich um ihre Mutter zu kümmern, fragte ich sie danach.
    Sie gab zu, dass Carie ein wichtiger Grund für ihre Rückkehr war. »Ich liebe Amerika, aber nicht genug, um dort zu bleiben«, sagte sie.
    »Du kannst jederzeit zurückgehen, oder?«
    »Das stimmt. Aber Lossing ist wie Absalom. Er ist fest entschlossen, in China zu sterben.« Sie lachte. Ihre Augen

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