Goldener Bambus
»Die soziale Stellung der Frau in China.«
Pearl rezitierte Hsu Chih-mos Gedicht »Krebs in der Literatur«:
Die Sprache riecht wie ein Sterbezimmer
Faulig, dreckig und stinkig
Angst und Mühe
Keine Fluchtmöglichkeit
Jugendlicher Enthusiasmus
Hoffnung und Ideale
Gras wächst durch Beton
Um Sonne und Luft zu blicken
»Du verliebst dich gerade in Hsu Chih-mo«, neckte mich Pearl.
Ich wünschte, ich könnte es abstreiten. Um zu einer seiner Dichterlesungen zu gehen, übernahm ich einen Auftrag in Shanghai. Hsu Chih-mo war genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte: ein ein Meter achtzig großer, gutaussehender Nordchinese mit seidigem, schwarz gewelltem Haar. Der Ausdruck seiner blattförmigen Augen war sanft, doch der Blick intensiv. Unter seiner ausgeprägten mongolischen Nase befand sich ein sinnlicher Mund. Er las mit viel Leidenschaft. Die Welt um mich herum verschwand.
Ich vertraue
Die Weidenkätzchen sind alle abgefallen
Ich vertraue
Der Kuckuck verwechselt Tag mit Nacht
Ich rufe »Kehr doch heim!«
Dem hellen Mond
Vertraue ich mein ängstliches Herz an
Das sagt, du bist tausend Kilometer weit weg
Ich vertraue
Mondlicht wird auf dich scheinen
Ich vertraue
Der Frost küsst das zarte Schilf im Moor.
Ich reiste Hsu Chih-mo hinterher und kaufte mir Eintrittskarten zu seinen Vorträgen. Für ihn trug ich schöne Kleider und hoffte, dass unsere Wege sich kreuzen würden. Er bemerkte mich nicht, doch sein Anblick war mir Belohnung genug.
In Shanghai erkannte ich, dass ich eine von Tausenden Frauen war, die von Hsu Chih-mo träumten und ihn umschwärmten wie die Motten das Licht.
Pearl erzählte mir, dass Hsu Chih-mo ständig in den Klatschspalten war. Die Beziehungen mit drei Frauen sorgten für Schlagzeilen in der
Shanghaier Abendzeitung
und in
Berühmtheiten
, einer Illustrierten. Zuerst ging es um seine Frau aus einer arrangierten Ehe, Tochter einer wohlhabenden Familie in Shanghai. Sie war ihm nach England gefolgt, wo das Paar das Undenkbare tat: In einem öffentlichen Brief bekannten sie, dass ihre Ehe ohne Zuneigung war und falsch. Fassungslos lernte die chinesische Gesellschaft das Wort Scheidung. Zyniker glaubten, Hsu Chih-mo habe seine Frau verlassen, um mit anderen Frauen zusammen zu sein. Seine Frau kehrte zur Geburt ihres gemeinsamen Sohnes nach China zurück, wo sie bei Hsu Chih-mos Eltern lebte und ihnen diente.
Die bezaubernde Miss Lin soll die zweite Frau in Hsu Chih-mos Leben gewesen sein. Als Tochter seines Mentors, eines Professors für chinesische Literatur in England, hatte sie in Amerika Architektur studiert. Es hieß, Miss Lin sei zwischen Hsu Chih-mo und ihrem Verlobten, einem berühmten Gelehrten chinesischer Architektur, hin- und hergerissen. Nach einem von der Presse in aller Ausführlichkeit berichteten Drama entschied sich Miss Lin für ihren Verlobten. Hsu Chih-mos dritte Frau war eine Kurtisane aus Peking. Mit der Heirat wollte er sie vor ihrer Opium- und Alkoholsucht retten. Ihre von Anfang an schwierige Ehe war immer gut für einen Aufmacher in den Zeitungen und Illustrierten.
Während ich noch in Shanghai war, schickte Pearl mir ein Telegramm. Jedes Wort darin ließ mein Herz höher schlagen: »Hsu Chih-mo kommt als Begleiter von Tagore, einem indischen Dichter, an die Universität in Nanjing. Du solltest dich beeilen, denn ich habe Hsu Chih-mo gebeten, einen Vortrag in meiner Klasse zu halten, und ER HAT ZUGESAGT !«
16 . Kapitel
D
ie Rollen von Gast und Gastgeber waren von Anfang an vertauscht. Hsu Chih-mo bekam mehr Aufmerksamkeit als der berühmte Dichter Tagore. Die beiden standen Schulter an Schulter auf der Bühne. Tagore las sein Gedicht
Gitanjali
vor und Hsu Chih-mo übersetzte es. Der Saal war rappelvoll, und die Studenten klatschten bei jedem Satz von Hsu Chih-mo.
Tagore, in eine braune Decke gehüllt, sah aus wie eine Tempelglocke aus Messing. Obwohl erst Mitte fünfzig, hielten ihn die Chinesen wegen seines brustlangen grauen Bartes für älter. Hsu Chih-mo dagegen war schlank, jugendlich und elegant. Es war offensichtlich, dass die Leute auf ihn gewartet hatten, den herrschenden Prinzen der chinesischen Literatur. Tagore fühlte sich immer unbehaglicher angesichts der Studenten, die nur klatschten, wenn Hsu Chih-mo sprach. Tagore sagte an ihn gewandt: »Ich dachte, die Leute wären gekommen, um mich zu sehen.«
»Das stimmt auch, Sir«, versicherte ihm Hsu Chih-mo. »Die Menschen sind gekommen, um Ihr Werk zu feiern.«
Pearl und ich
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