Goldener Bambus
saßen in der ersten Reihe. Ich trug meine silberne Jacke aus Shanghai und einen karmesinroten Seidenschal. Sie hatte ihr knittriges braunes Jackett, einen schwarzen Baumwollrock und derbe chinesische Bauernschuhe an. Die ausgeleierten Socken hingen locker um ihre Knöchel. Ihre Frisur sagte mir, dass sie wieder Probleme mit Carol hatte.
»Es ist nicht zu fassen, dass du dich nicht einmal schön angezogen hast«, flüsterte ich ihr ins Ohr.
»Sei froh, dass ich überhaupt gekommen bin«, erwiderte sie barsch.
So leicht wollte ich sie nicht davonkommen lassen. »Herrje, es ist Hsu Chih-mo. Wie oft haben wir schon Gelegenheit, einer Berühmtheit zu begegnen.«
Sie sah mich müde an.
»Was ist?«, fragte ich.
»Nichts.«
»Sag schon.« Ich fasste sie am Ellbogen.
»Also gut.« Sie wandte sich mir zu und flüsterte: »Es würde mir nichts ausmachen, Hsu Chih-mo zu verpassen. Ich bin wegen Tagore hier.«
»Dann nehme ich also den Jungen und du den Alten«, neckte ich.
»Pst!«
Die zwei Männer auf der Bühne fuhren fort. Hsu Chih-mo übersetzte das letzte Gedicht von Tagore:
Ich warte nur auf die Liebe, um mich endlich in ihre Hände zu begeben
Drum ist es so spät, und ich bin schuld an solchen Versäumnissen
Sie kommen mit ihren Gesetzen und ihren Normen, um mich festzubinden
Aber ich entschlüpfe ihnen immer
Denn ich warte nur auf die Liebe, um mich endlich in ihre Hände zu begeben
Leute beschuldigen mich und nennen mich unachtsam
Ich zweifle nicht, dass sie mit ihrem Vorwurf recht haben.
»Tagore hat Glück«, flüsterte ich Pearl ins Ohr.
Sie nickte zustimmend. »Hsu Chih-mo gibt Tagores Worte sehr gut wieder.«
»Tagore scheint das nicht richtig zu würdigen.«
Hsu Chih-mo fuhr fort.
Der Markttag ist zu Ende und die Arbeit der Geschäftigen getan
Jene, die kamen und mich vergeblich riefen, gehen ärgerlich zurück
Ich warte nur auf die Liebe, um mich endlich in ihre Hände zu begeben
Pearl und Hsu Chih-mo standen gemeinsam vor der Klasse. Sie hatte den Dichter eingeladen, am Tag nach seinem Auftritt mit Tagore zu ihren Studenten zu sprechen. Da wussten sie noch nicht, was passieren würde – und dass Historiker später über diesen Moment schreiben würden.
Hsu Chih-mo war augenscheinlich von Pearls exzellentem Chinesisch überrascht. Abgesehen von ihren westlichen Gesichtszügen und ihrer Haarfarbe, war Pearl durch und durch chinesisch.
»Ich entschuldige mich für den ärmlichen Empfang, aber unsere Herzen sind aufrichtig.« Pearl lächelte und bedeutete einem Studenten, ihm Tee einzuschenken.
»Longjing aus Hangzhou«, sagte Pearl und brachte Hsu Chih-mo den Tee. Sie stellte die Tasse vor ihn und verneigte sich leicht.
Im Nachhinein gestand ich mir ein, nicht gemerkt zu haben, dass Hsu Chih-mo vom ersten Moment an von Pearl fasziniert war. Ihre Ungezwungenheit und ihr Selbstbewusstsein nahmen ihn gefangen.
»Woher stammen Sie?«, fragte Hsu Chih-mo Pearl, die Studenten ignorierend.
Im perfekten Chinkianger Dialekt antwortete Pearl: »Das Schwein ist vom Nordfluss.«
Er verstand ihren Witz und lachte.
Viele Südchinesen bezeichneten Kulis, Landstreicher, Bettler und Räuber als Nordfluss-Schweine, denn sie kamen aus dem unfruchtbaren Teil des nördlichen Jangtse, waren arm und aus der Unterschicht. Mit diesem Witz offenbarte Pearl zwei Fakten über sich selbst: Erstens, dass sie Einheimische war, und zweitens, dass sie sich mit dem Volk identifizierte. Sie hätte auch genauso gut perfektes Mandarin mit kaiserlichem Akzent sprechen können.
Vor der Klasse sprach Hsu Chih-mo über seine Arbeit als Übersetzer Tagores.
Pearls Fragen waren charmant, aber auch gewagt. Sie forderte Hsu Chih-mo auf, den Unterschied zwischen dem indischen und chinesischen Sprachrhythmus zu beschreiben. Zudem bat sie ihn, seine Kunst des Übersetzens zu erklären, besonders den Unterschied zwischen einer »formgetreuen« und »inhaltsgetreuen« Übersetzung.
Fasziniert von Hsu Chih-mo, war ich blind und taub gegenüber dem, was sich vor meinen Augen zwischen ihm und Pearl abspielte.
Eine Studentin meldete sich. »Was hat Sie dazu bewogen, Dichter zu werden?«, fragte sie.
»Tollheit«, erwiderte Hsu Chih-mo. »Meine Mutter sagte, als Kind wäre ich ihr unheimlich gewesen. Nachts hätten meine Augen offen gestanden, und seltsame Worte seien aus meinem Mund gekommen. Für mich waren Gedichte das, was für andere Jungen Steine und Kartenspiele waren.«
Ein Student mit Brille fragte. »Sie werden der
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