Goldener Bambus
chinesische Shelley genannt. Welche Bedeutung hat das für Sie?«
»Es bedeutet mir gar nichts.« Hsu Chih-mo lächelte. »Aber natürlich fühle ich mich geehrt.«
»Wie gehen Sie vor, damit Ihre Gedichte gelingen?«, fragte Pearl.
Hsu Chih-mo überlegte einen Moment, bevor er antwortete. »In gewisser Weise bin ich wie ein Schneider, der eine Hose näht. Zuerst betrachte ich mir eingehend den Stoff, um zu wissen, wie ich ihn schneiden muss. Für eine gute Hose braucht man viel Stoff. Ich achte darauf, dass meine Schnitte mit dem Faden laufen, nicht dagegen.«
Eine laute Stimme erhob sich hinten in der Klasse. »Herr Hsu, wie beurteilen Sie die literarische Bewegung in unserer heutigen Gesellschaft?«
Diese Frage fiel wie ein Fels in einen stillen Teich. »Es beunruhigt mich, dass man in unserem Land diskutiert, ob die chinesische Sprache den Bauern zugänglich gemacht werden soll«, antwortete Hsu Chih-mo erregt mit lauter Stimme. »Wir alle wissen, dass der Kaiser, den wir vor dreizehn Jahren vom Thron gestoßen haben, eine Privatsprache benutzte, die allein sein Tutor verstand. Das Erbe unserer stolzen Zivilisation wird der Lächerlichkeit preisgegeben, wenn wir mit unserer Sprache Distanz und Isolation schaffen, anstatt Kommunikation und Verstehen zu fördern.«
Als Chefredakteurin des
Nanjinger Tageblatts
rief ich die Nachrichtensendung »Chinas literarische Front« ins Leben, die ich finanzierte und produzierte und die in ganz China ausgestrahlt wurde. Ich reiste, speiste und unterhielt mich mit einigen der klügsten Köpfe unserer Zeit. Doch am meisten genoss ich die Begegnungen mit Hsu Chih-mo. Am Anfang war er zurückhaltend, doch ich gewann bald sein Vertrauen. Am Ende unserer gemeinsamen Arbeit waren wir gute Freunde geworden. Ich fragte Hsu Chih-mo, was ihn innerlich antrieb.
»Der innere Antrieb ist viel wichtiger als Talent«, eröffnete er mir. »Schreiben ist für mich Essen und Atmen. Wem es anders geht, der sollte erst gar nicht zum Stift greifen.«
»Genauso empfindet es meine Freundin Pearl Buck«, sagte ich.
»Meinst du das Nordfluss-Schwein?« Bei der Erinnerung an sie lächelte er.
»Ja.«
»Was hat sie geschrieben?«
»Essays, Gedichte und Romane. Und sie schreibt Kolumnen für mich. Wenn es dich interessiert, schicke ich dir Abschriften ihrer Artikel.«
»Ja, gern.«
Im Verlauf des Gesprächs fragte Hsu Chih-mo, wie Pearl und ich Freundinnen geworden waren.
Es gibt Menschen, die sich ihr eigenes Grab schaufeln, ohne es zu merken. So ging es mir, als ich Hsu Chih-mo Geschichten über meine Freundin erzählte.
Nachdem Tagore wieder in Indien und Hsu Chih-mo zurück in Shanghai war, fühlte ich mich inspiriert und angeregt. Wider besseres Wissen folgte ich meinen Gefühlen. Wenn ich bisher nicht an Schicksal und Zufall geglaubt hätte, hätte ich jetzt damit angefangen. Als das Direktorium der Universität in Nanjing mich um Mithilfe bat, Hsu Chih-mo als Gastprofessor an die Universität zu holen, tat ich alles in meiner Macht Stehende, damit es klappte.
Pearl sah keine Chance, Hsu Chih-mo an die Universität in Nanjing zu holen. »Er hat an der Peking Universität und der Shanghai Universität unterrichtet«, erinnerte sie mich. Doch ich hatte eine brillante Idee – das jedenfalls glaubte ich seinerzeit: Pearl und ich schrieben ihm gemeinsam eine persönliche Einladung.
Ein paar Wochen später traf Hsu Chih-mos Antwort ein. Er war auf dem Weg nach Nanjing.
17 . Kapitel
N
ach Hsu Chih-mos Ankunft verlagerte sich das Zentrum des literarischen Lebens Chinas von Shanghai nach Nanjing, wobei die Universität zur Hauptbühne der Neuen Kulturbewegung wurde. Zu den von mir wöchentlich ausgerichteten Veranstaltungen kamen Journalisten, Schriftsteller und Künstler aus dem ganzen Land. Ich hatte so viel zu tun, dass ich nur noch im Stehen aß. Mein letzter Besuch bei Pearl lag Wochen zurück, und eines Abends beschloss ich spontan, mal wieder zu ihr zu fahren.
Sie überraschte mich mit der Nachricht, dass Lossing ausgezogen war.
»Er lebt mit Lotos zusammen«, sagte Pearl bedrückt.
»Und was ist mit Carol?«, fragte ich.
»Lossing sagt, sie würde den Unterschied nicht merken. Er behauptet, sie wüsste nicht einmal, dass er ihr Vater ist.«
Ich versuchte sie zu trösten. »Wichtig ist nur, dass du das Beste daraus machst.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du hast ein eigenes Leben.«
»Carol hat nicht verdient, von ihrem eigenen Vater im Stich gelassen zu
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