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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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vernagelten Läden wurden geplündert. Es gab Jäger und Gejagte, Tag und Nacht waren Rufe und Schreie zu hören. In der Ferne ertönten Gewehrschüsse.
    Ich ging zur Universität, um zu sehen, was dort passierte. Das Gelände lag ruhig da wie ein Friedhof. Die Fenster im Wissenschaftsgebäude waren zerschossen. Dann sah ich das Blut auf dem Gehweg.
    »Hilfe«, hörte ich eine Stimme rufen.
    Entsetzt entdeckte ich einen blutüberströmten Ausländer hinter einem Busch. »Hilfe«, stieß der weinende Mann mühsam hervor. »Ich bin Dekan hier, und ich bin … amerikanischer Missionar.«
    Er wurde ohnmächtig, noch bevor ich ihn nach seinem Namen fragen konnte.
    »Sir! Sir!« Ich kniete nieder und schüttelte ihn.
     
    Der Mann starb in meinen Armen. Die Gewehrschüsse waren jetzt so nah, dass ich die Kugeln zischen hörte. Nachdem ich den Toten auf den Boden gelegt und mit meiner Jacke bedeckt hatte, ging ich zurück in die Stadt. Der Wind wehte kühl in mein Gesicht an diesem sonst perfekten Frühlingstag mit blühenden Kamelien.
    Eine wild mit den Armen wedelnde Frau kam auf mich zugerannt.
    Ich erkannte sie. »Lilac!«
    »Der Mob ist da!«, schrie Lilac. »Sie suchen nach Ausländern und haben schon einen umgebracht. Es soll der Dekan der Universität gewesen sein!«
    »Lilac, der Mann ist in meinen Armen gestorben!«
    Als Lilac das Blut an meinen Händen und Kleidern sah, wurde sie kreidebleich.
    Wir nahmen Abkürzungen durch die Hügel, um zu Pearls Haus zu kommen. Ich bedauerte, nicht schon vor Tagen auf der Abreise von Pearl und ihrer Familie bestanden zu haben. Panik erfasste mich beim Gedanken an den Mob. Lilac erzählte, wie sie beobachtet hatte, dass chinesische Christen, unsere Nachbarn und Freunde, vom Mob getötet worden waren.
     
    Pearl konnte sich glücklich schätzen, dass sie und ihre Familie bis jetzt unbeschadet geblieben waren. Dreimal hatten Soldaten und wütende Banden ihr Haus heimgesucht und alles Wertvolle mitgenommen. Die Letzten zogen enttäuscht ab, weil es nichts mehr zu holen gab.
    Absaloms Stirn blutete. Er hatte versucht, die Leute aufzuhalten, und war niedergeschlagen worden. Doch selbst das hatte ihn nicht davon abgehalten, mit den Eindringlingen zu diskutieren. Er war entschlossen, ihnen Gottes Gnade zu beweisen. Am Ende hatte Papa den Plünderern sein letztes Geld gegeben, damit sie verschwanden.
    Pearl war entsetzt, als sie erfuhr, dass der Universitätsdekan, ein persönlicher Freund, umgebracht worden war.
    »Es werden mehr Soldaten nach Nanjing kommen«, prophezeite Papa.
    Pearl und Grace hielten ihre Kinder im Arm. Grace weinte. Die Schwestern fragten sich, ob sich die Familie nicht vielleicht doch trennen sollte.
    Papa informierte Pearl, dass es in der Stadt von Soldaten und dem Mob wimmelte und sie das Haus keinesfalls verlassen durfte. »Sie schießen sofort, wenn sie einen Ausländer sehen.«
    Absalom sprach wieder von Gottvertrauen.
    Pearl wandte sich ab.
    Absalom schlug vor, gemeinsam zu beten. »Bereiten wir uns angemessen darauf vor, unserem Schicksal zu begegnen.«
    Niemand sagte etwas.
    Absalom ging in sein Zimmer und schloss die Tür.
    Pearl und Grace sahen sich an, Tränen in den Augen.
    Ich hatte Angst. Keiner wusste, was wir tun sollten.
    Pearl nahm Stift und Papier und fing hastig an zu schreiben.
    »Ich gehe zum Pier«, verkündete sie. »Vielleicht hat ein ausländisches Schiff Erbarmen mit uns. Ein Versuch kann nicht schaden. Ich schreibe alle unsere Namen auf.«
    »Lass mich hingehen«, schlug ich vor. »Du bist mit deinen blonden Haaren eine lebende Zielscheibe.«
    Pearl hielt mir den gefalteten Zettel hin. »Gib ihn jemandem, der uns helfen kann.«
    »Ich gehe«, sagte Papa. »Die Soldaten werden Weide vergewaltigen, und außerdem ist sie schwanger.«
    »Nein, Papa«, erwiderte ich. »Du bist alt …«
    Bevor ich noch etwas sagen konnte, nahm Papa Pearl den Zettel aus der Hand und verließ das Haus. Noch nie hatte ich ihn so schnell laufen sehen. Seine schmächtige Gestalt verschwand flink wie ein Reh außer Sichtweite.
     
    Wir wagten es nicht, Kerzen anzuzünden. Die Kinder schliefen. Pearl und Grace standen hinter der Eingangstür und lauschten nach draußen. Ich war vom vielen Wasserschleppen erschöpft und hatte mich auf eine Strohmatte am Boden gelegt, um zu schlafen. Dabei musste ich an Dick und Papa denken und betete für ihre Sicherheit.
    Stunden später wurde ich durch ein lautes Klopfen an der Tür aus dem Tiefschlaf gerissen.
    Alle

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