Goldener Bambus
Die Mehrzahl bildeten jedoch nicht die Stadtbewohner, sondern Leute aus den umliegenden Dörfern, die in unserer Stadt Zuflucht vor dem Chaos gesucht hatten. Von ihnen glaubten viele, dass die Ausländer der Fluch Chinas waren und man sie besser heute als morgen loswerden sollte.
Ich kämpfte mich durch die Menge, stieß Leute beiseite, um zu Kaiser Kohlkopf vorzudringen. Ich wollte ihn erstechen.
»Du!« Er hatte mich aus der Ferne entdeckt.
Ich hielt mich zurück, Dicks Messer in der Hand unter der Bluse.
Kaiser Kohlkopf stand unweit von Absalom, Pearl, Grace und den Kindern. Inzwischen hatte man ihnen die Hände auf dem Rücken zusammengebunden.
Ich hoffte, Kaiser Kohlkopf zu erreichen, bevor er mich erschoss.
»Ich werde zuerst sterben«, sagte Absalom mit ruhiger Stimme. Er sah seine Töchter und Enkel an. »Wir werden bei Gott sein.«
Die Menge sah ängstlich schweigend zu.
Absalom wandte sich an die Leute und begann zu singen.
Das größte Geschenk, das die Welt je gekannt
Als der Gott der Ehre
Der voller Gnade ist
Seinen Sohn sandte
Pearl, Grace und die Kinder stimmten mit ein.
Liebe ist gekommen
Die Hoffnung hat begonnen
Noch immer einen höheren Ruf
Hat Er, erlöst uns von unseren Sünden
»Meister Absalom«, riefen die chinesischen Christen, sanken auf die Knie und stimmten mit ein.
Denn durch die Sünde der Menschen fielen wir
Doch wegen Gottes Sohn
Der die Macht der Hölle zerstört hat
Fürchten wir nicht mehr den Tod
Absalom sang, als wäre er in seiner Kirche.
»Fertigmachen zum Schießen!«, schrie Kaiser Kohlkopf.
Ich trat hinter Kaiser Kohlkopf und holte das Messer hervor.
Er hörte das Geräusch und drehte sich um. Ich sah in seine großen Froschaugen.
Danach kann ich mich an nichts mehr erinnern. Nur noch, dass ich das Messer hob und es um mich herum dunkel wurde.
»Du bist eine Ameise, die an einer Kiefer rütteln will!«, soll Kaiser Kohlkopf gesagt haben, nachdem einer seiner Soldaten mir einen Schlag auf den Hinterkopf verpasst hatte, erzählte man mir später.
Als ich die Augen aufmachte, hörte ich: »Tötet die Reis-Christen!« Ich lag auf dem Boden. Meine Hände waren im Rücken zusammengebunden und mein Hinterkopf pochte vor Schmerz.
»Habt Mitleid!«, hörte ich Pearl flehen. »Weide ist schwanger!«
»Schwanger?« Kaiser Kohlkopf lachte. »Gut! Das erspart mir eine Kugel!«
Die Soldaten zerrten mich vom Boden hoch und stellten mich neben Absalom.
»Lobe den Herren«, sagte Absalom. »Er wird dich mit Mut segnen.«
Papa warf sich auf den Boden und machte Kotaus vor Kaiser Kohlkopf. »Lasst meine Tochter gehen!«
Die Soldaten schlugen Papa mit ihren Gewehren, bis er still war.
»Weide, wir gehen nach Hause«, sagte Absalom zu mir.
Ich blickte ihm in die Augen. Es war keine Angst darin – nur Vertrauen und Liebe.
»Die Engel sind gekommen«, murmelte er. »Gott wartet auf uns.«
Ich schloss die Augen und lehnte mich an Absalom. Ich wollte nicht sterben.
Die Soldaten stellten sich auf und brachten ihre Gewehre in Anschlag.
Kaiser Kohlkopf schrie: »Fertigmachen und …F-!«
Bevor Kaiser Kohlkopf »Feuer« sagen konnte, bebte die Erde. Ein heller Blitz leuchtete auf, gefolgt von lautem Gebrüll.
Ich verlor das Gleichgewicht und fiel hin.
Erdklumpen regneten auf mich herab.
Staubwolken wirbelten über den Boden und nahmen mir die Luft.
»Was ist hier los?«, schrie Kaiser Kohlkopf.
»Das ist bestimmt der zornige Christengott!«, hörte ich Papa antworten.
Die Soldaten liefen wie Affen in alle Richtungen.
Als sich der Staub legte, sah ich die brennenden Hügel nahe der Stadt und schwarzen Rauch gen Himmel steigen.
»Die amerikanische Flotte ist da!«, schrien Zimmermann Chan und Lilac, die vom Ufer aus herbeigerannt kamen.
Weitere Explosionen folgten. Die Erde bebte wieder, es gab mehr Staub und Rauch und Flammen.
Meine Ohren fingen an zu klingeln. Es war, als hätte jemand Watte reingestopft.
Kaiser Kohlkopf folgte seinen Soldaten, so schnell er konnte.
Die Menschen stoben auseinander, und bald standen nur noch wir vor Soo-chings abgebrannter Hütte.
Zimmermann Chan nahm Pearl die Fesseln ab. »Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, Ihren Brief zu übergeben.«
»Welchen Brief?«, fragte Absalom.
»Wie haben Sie das nur geschafft, Chan?« Pearl stand die Begeisterung ins Gesicht geschrieben.
»Ich hab überall rumgefragt und wollte schon aufgeben, aber dann hatte ich Glück«, antwortete Zimmermann Chan. »Ich
Weitere Kostenlose Bücher