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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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begeisterte die Kinder, und sie nannten es einen großen schwimmenden Tempel.
    Zimmermann Chan ging hinter Absalom. Weinend jammerte er: »Ich schaffe das nicht ohne Sie, Alter Lehrer.«
    Papa stimmte ein: »Absalom, ohne Sie als unseren Kompass verlieren wir die Orientierung auf hoher See.«
    »Vertraut auf Gott«, erwiderte Absalom.
    »Aber als Pfarrer muss man Fähigkeiten haben, die ich nicht besitze«, beharrte Zimmermann Chan. »Die Leute werden mir nicht folgen, wie sie Ihnen gefolgt sind. Affen fliehen, wenn der große Baum fällt. Ich habe Angst, dass die Kirchengemeinde sich auflöst.«
    »Zimmermann Chan hat recht«, ergriff Papa das Wort. »Auch wenn wir noch so hart arbeiten, die Leute sehen Gottes Geist in Ihnen, Absalom – nicht in uns.«
     
    Wang Ah-ma, Caries ehemalige Hausangestellte und Kindermädchen von Pearl und Grace, kam, um sich zu verabschieden. Dass die siebzig Jahre alte Frau den beschwerlichen Weg auf sich genommen hatte, überraschte uns alle. Nach Caries Tod war Wang Ah-ma in den kleinen Ort zurückgegangen, wo sie aufgewachsen war. Nachdem sie gehört hatte, dass die Ausländer in Chinkiang und Nanjing umgebracht wurden, wollte sie sehen, wie es um Absalom, Pearl und Grace stand. Wang Ah-ma konnte nicht wissen, dass sie es gerade noch rechtzeitig nach Nanjing schaffen würde, um bei der endgültigen Abreise der Familie dabei zu sein.
    »Wang Ah-ma!«, riefen Pearl und Grace mit Tränen in den Augen, knieten nieder und machten Kotaus vor ihr.
    »Meine süßen Mädchen!« Wang Ah-mas zittrige Hände fuhren tastend über Pearls und Graces Gesicht, denn ihre Augen waren schlecht geworden, und sie konnte kaum noch etwas erkennen.
    »Du hättest nicht so weit reisen sollen.« Pearl wischte sich die Tränen weg.
    »Wann kommt ihr nach China zurück?«, wollte Wang Ah-ma wissen. »Vor dem neuen Jahr oder danach?«
    »Was spielt das für eine Rolle?«, fragten alle.
    »Der Wahrsager hat prophezeit, dass ich kurz nach dem neuen Jahr sterbe«, erwiderte Wang Ah-ma.
    »Grace und ich würden gern beweisen, dass das Geld für den Wahrsager rausgeschmissen war«, sagte Pearl.
    Lächelnd umfasste Wang Ah-ma Pearls Gesicht. »Mein Kind, versprich mir, dass du, so schnell du kannst, zurückkommst.«
    »Das verspreche ich.« Pearl küsste Wang Ah-ma sanft auf die Wangen.
    »Alle an Bord kommen, jetzt oder nie!«, rief der Kapitän durch den Lautsprecher des Kriegsschiffs.
    Wang Ah-ma ließ Pearl und Grace los und brach weinend zusammen.
    Die Familie bestieg das kleine Boot, das sie zum Kriegsschiff bringen würde. Absalom stand am Bug mit dem Rücken zum Ufer und blickte scheinbar starr hinaus aufs Wasser.
    Das Horn ertönte.
    Die chinesischen Christen jammerten: »Alter Lehrer Absalom!«
    Zimmermann Chan und Papa weinten wie zwei verwaiste Kinder.
    »Möge der Wind immer günstig stehen!«, riefen die Leute im Sprechchor.
    Absalom stand nicht mehr auf seinem Platz. Er schien plötzlich verschwunden.
    »Vater!«, schrien Pearl und Grace.
    Papa war fassungslos. »O du lieber Gott, Alter Lehrer hat seine Meinung geändert.«
    Absalom war kurzerhand aufs Dollbord gestiegen, wie eine Ziege ins Wasser gesprungen und kam nun ans Ufer geschwommen.
    »Alter Lehrer!«, jubelte die Menschenmenge. »Alter Lehrer!«
    »Absalom hat beschlossen, bei uns zu bleiben!« Papa weinte.
    Zimmermann Chan watete Absalom im Wasser entgegen.
    »Kapitän, helfen Sie!«, rief Grace. »Halten Sie meinen Vater auf, bitte!«
    Mit Freudentränen in den Augen empfingen die Menschen Absalom.
    Wenige Minuten später kam der Kapitän des Kriegsschiffes in einem zweiten kleinen Boot. Er sprach mit Pearl.
    Ich ahnte schon, was Pearl dem amerikanischen Kapitän sagen würde, nämlich: »Lassen wir dem kämpfenden Engel seinen Willen.«
    Als Pearl, Grace und die Kinder an Bord des Schiffes gingen, lächelte Absalom. Als er seinen Töchtern und Enkelkindern zum Abschied winkte, schwenkten seine langen Arme wie Fahnenstangen in der Luft.
    Pearl winkte zurück. Ich glaube, sie wusste, dass es richtig war, ihren Vater loszulassen.
    Doch sie wusste nicht, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Absalom verrichtete das Werk Gottes bis zum Schluss. Eines Tages hielt er seinen Gottesdienst ab und sagte danach zu Zimmermann Chan, dass er sich jetzt ausruhen wolle. Wenige Minuten später fand ihn Zimmermann Chan in seinem Zimmer, wo er wie schlafend auf dem Bett lag. Doch er war tot. Bis zuletzt hatte Absalom seinen Traum gelebt. Mit der Hilfe von Papa

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