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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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mit einem Gedicht ihres Mannes: »Genieße die Schönheit des Schnees und hab kein Mitleid mit den frierenden Fliegen.«
    Ich dachte, Dick hätte unter meiner Abwesenheit gelitten und auf mich gewartet. Doch das war ein Irrtum. Ein Jahr nach meiner Verschickung ins Arbeitslager stellte ihm die Partei eine junge Frau an die Seite. Sie war seine Sekretärin und Krankenschwester und nicht einmal halb so alt wie er. Dick merkte nicht, dass es eine Falle war. Als es ihm schließlich bewusst wurde, hatte er sich in sie verliebt.

28 . Kapitel
    D
ie Sommer in Chinkiang waren heiß und schwül wie in einem Dampfbad. Papa holte uns vom Bahnhof ab. Ich hatte ihn lange Jahre nicht gesehen, und dass er noch lebte, war erstaunlich. Er war klein und krumm und hatte einen kahlen Kopf. Als wir uns umarmten, flossen die Tränen. Rouge freute sich sehr, ihren Großvater zu sehen, obwohl sie ihn kaum kannte.
    »Ich habe den Überblick über dein Alter verloren, Großvater«, sagte Rouge. »Wie alt bist du inzwischen?«
    »Neunundzwanzig!«, erwiderte Papa.
    »Du meinst sicher zweiundneunzig«, sagte Rouge.
    »Du hast den Witz verstanden! Aber eigentlich bin ich noch älter.« Papa richtete sich auf, um größer zu wirken.
    »Aber du siehst aus wie neunundzwanzig!«, sagte Rouge.
    »Wirklich?« Papa freute sich. »Ich fühle mich auch wie neunundzwanzig.«
    »In meiner Erinnerung warst du nicht so klein«, sagte ich. »Du bist jetzt ein Meter zwanzig groß, oder?«
    »Früher war ich doppelt so lang«, erwiderte Papa.
    »Weshalb bist du geschrumpft?«, fragte Rouge.
    »Mein Körper wusste sich einzuschränken, als die Zeiten hart waren.«
    Rouge lachte. »Ich kann mir nicht vorstellen, einmal so zu schrumpfen.«
    »Dreißig Jahre im Ostfluss, und dann die nächsten dreißig Jahre im Westfluss«, zitierte Papa Konfuzius.
    »Was bedeutet das?«, fragte Rouge.
    »Nach den Lehren des Feng Shui gibt es im Kreislauf des Lebens immer wieder die gleichen Chancen.«
    »Wie lautet dein Geheimnis für ein langes Leben, Großvater?«, fragte Rouge.
    Papa lächelte und sagte flüsternd: »An etwas zu glauben.«
    »An Buddha?«, neckte Rouge.
    »Wie kannst du vergessen, wer ich bin?« Papa tat entrüstet, doch nicht sehr überzeugend.
    Ich wechselte das Thema. »Wo sollen wir wohnen, Papa?«
    »In der Kirche«, erwiderte er.
    »Hier in Chinkiang?«
    »Ja, in Absaloms Chinkiang-Kirche.«
    »Aber sie ist nicht dafür gebaut, dass Leute drin wohnen …« Sofort wurde mir klar, wie albern meine Bemerkung war. Die Lebensbedingungen in China waren inzwischen so schlecht, dass die Menschen sogar in Tierbehausungen lebten.
    »Viele Menschen betrachten sie nicht mehr als Kirche«, erklärte Papa. »Während des Krieges gegen Japan war sie das Hauptquartier der nationalistischen Truppen. Als die Japaner dann herrschten, wurde sie zur Kaserne. Nach der Befreiung 1949 haben die Kommunisten sie in Besitz genommen. Seither hat sie viele verschiedene Funktionen gehabt. Zuerst war sie ein militärisches Hauptquartier, dann ein Lagerhaus für die neue Regierung. Als Mao die Volkskommunen-Bewegung ins Leben rief, wurde sie zur öffentlichen Kantine. Als die Volkskommunen scheiterten, diente sie als Unterkunft für Obdachlose. Zu Beginn der Kulturrevolution haben Rote Garden aus anderen Provinzen sie in Besitz genommen und mein Buntglasfenster zertrümmert und jedes einzelne Jesusbild mit Maos Konterfei übermalt. Sie kletterten aufs Dach und rissen das Kreuz runter.«
    »Leben momentan Leute dort?«, fragte ich.
    Papa nickte.
    »Wie viele?«
    Papa hielt zwei Finger hoch.
    »Zwei?«, sagte Rouge.
    »Zwanzig. Familien.«
    »Zwanzig Familien?«
    »Ja. Zwanzig Familien, einhundertneun Menschen.«
    »Wie ist das möglich?«
    »Oh, es geht zu wie im Taubenschlag.«
     
    Als ich die Kirche von Chinkiang sah, kamen Erinnerungen an Absalom und Carie in mir hoch. Ich musste kurz stehen bleiben, um mich zu fassen. Die graue Fassade war verblasst, aber das Gebäude solide. Die Steinstufen am Eingang glänzten wie poliert, so verschlissen waren sie.
    Obwohl Papa mich gewarnt hatte, war ich erschüttert, wie es im Inneren der Kirche aussah. Ich hatte einen Taubenschlag erwartet und einen Bienenstock vorgefunden. Die einzige Lichtquelle im Raum waren die Fenster ganz oben unter der Decke, die früher einmal aus Buntglas waren. An den Wänden standen menschengroße Holzkisten, die wie überdimensionale Bücherregale aussahen und bis zur Decke reichten. Das waren die Schlafplätze

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