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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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glaubte ich Absaloms Stimme zu hören.
    Ich warf einen ängstlichen Blick zur Tür. Sie war geschlossen und mit einem dicken Holzbalken gesichert.
    Die einhundertneun Bewohner der alten Kirche lauschten andächtig. Sie saßen auf den Bänken, dem Fußboden oder lagen in ihren Schlafkisten.
    Als Papa fertig war, sangen sie »Amazing Grace«.
    Das Lied rief Erinnerungen an mich und Carie am Klavier wach. Erst jetzt verstand ich den Text wirklich.
    ’Twas Grace that taught my heart to fear,
    And Grace my fears relieved;
    How precious did that Grace appear,
    The hour I first believed.
    Through many dangers, toils and snares,
    I have already come;
    ’Tis Grace that brought me safe thus far,
    And Grace will lead me home.
    Ich rollte mich zurück in meine Schlafkiste. Als Dick mir erzählt hatte, dass er sich in seine Sekretärin verliebt und beschlossen habe, unsere Ehe zu beenden, hatte ich nicht geweint. Doch jetzt überrollte mich ein Gefühl so groß wie eine Meereswelle.
    Rouge hielt mich im Arm, als ich weinte.
    »Du bist zu Hause, Mama.« Sie wischte sanft meine Tränen ab. »Wir sind zu Hause.«

29 . Kapitel
    A
ls Chef der Kommunistischen Partei von Chinkiang war Wegbereiter für meine Umerziehung zuständig. Der Sohn der Bettlerin Soo-ching, der früher einmal Konfuzius hieß, hatte sich zu einem fetten, schielenden Mann mit Eichhörnchengesicht entwickelt. Er genoss es sehr, mich niederzumachen, und befahl anderen, es ihm gleichzutun.
    Wegbereiter tat, als würde er mich nicht kennen. Er sprach Mandarin mit einem schweren Chinkianger Akzent und war stolz darauf, Analphabet zu sein. Als er Parteichef wurde, hatte er den Gottesdienst untersagt und die Erwähnung von Absalom, Carie und Pearl zum Verbrechen erklärt.
    Als Wegbereiter von Pearls Nobelpreis hörte, sah er darin eine Gelegenheit, seine politische Karriere voranzutreiben. Er lud Maos Lieblingsjournalisten nach Chinkiang ein und zeigte ihnen die Stadt, in der die berühmte Kulturimperialistin aufgewachsen war. Bald darauf ließ Madame Mao Wegbereiter in die Verbotene Stadt kommen und ehrte ihn als »großen Fußsoldaten des Vorsitzenden Mao«. Sie schenkte ihm eine ihrer kalligraphischen Arbeiten mit dem Satz: »Die Hoffnung, eine kulturelle Atombombe auf den Weltkapitalismus zu schleudern, ruht auf deinen Schultern.«
    Mich bezeichnete Wegbereiter als »böse Zwillingsschwester von Pearl Buck« und »Chinkiangs Schande«. Kinder animierte er, mich Abschaum zu nennen. Jeden Tag musste ich die Abwasserrinnen und öffentlichen Toiletten der Stadt reinigen und freitagsnachmittags bei ihm antreten, um meine Verbrechen zu gestehen. Von dem, was ich sagte, hing ab, ob er mich bestrafte oder gehen ließ. Wenn er unzufrieden war, gab er mir zusätzliche Arbeit. Zum Beispiel befahl er mir, sein Büro, die ehemalige Britische Botschaft, zu putzen. Wollte er mich noch mehr erniedrigen, musste ich mit einer Glocke durch die Stadt gehen und rufen: »Kommt und seht euch den amerikanischen Lakai an«, »Nieder mit Weide Yee« und »Lang lebe die Diktatur des Proletariats«. Wegbereiter hasste es, wenn ich ihn aus Protest schweigend anstarrte.
    »Du weißt, dass ich dich foltern lassen kann«, drohte er mir ständig.
    Wegbereiter wollte, dass ich ihm jedes Detail über meine Freundschaft mit Pearl Buck erzählte.
    »Geh bis zurück in deine Kindheit«, befahl er mir.
    Papa sagte, ich solle auf meine Würde pfeifen. »Sprich die Sprache des Wolfs!« An meiner Stelle würde er Wegbereiter etwas vorspielen.
    Ich versuchte es, doch es klappte nicht. Wegbereiter war fest entschlossen, Madame Mao einen Erfolg zu bieten, und nahm mir die Abstraktionen und leeren Worte nicht ab. »Wie kannst du es wagen, die Kommunistische Partei für dumm zu verkaufen!«, schrie er mich an.
    Um mich noch mehr unter Druck zu setzen, organisierte er Kundgebungen auf dem Marktplatz. Er schrie: »Gesteh oder du wirst zu Tode gefoltert!«, und die Masse wiederholte seine Worte.
    Wenn Wegbereiter meine Haare nach hinten zog, um der Menschenmenge mein »böses Gesicht« zu zeigen, stellte ich mir
Die Butterfly Lovers
vor, hatte jedes Detail der Aufführung vor Augen, die ich mit Pearl und NaiNai gesehen hatte. Als Wegbereiter mich auspeitschte, sah ich Vögel, Bienen und Libellen in Absaloms Kirche fliegen. Wenn ich anfing zu bluten und mein ganzer Körper schmerzte, hörte ich Carie ihr Lieblingsweihnachtslied singen: »What Child Is This?«
     
    In meinen Träumen besuchte ich Pearl in Amerika.

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