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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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der Menschen, zum Sitzen zu niedrig und nur mit Strickleitern zu erreichen. Kinder und junge Leute schliefen ganz oben, die älteren unten. Jeder Zentimeter war genutzt. Den Waschbereich bildeten ein etwa sechs Meter langes Becken in Form eines aufgeschlitzten Wasserrohrs und zehn Hähne, aus denen ein schwacher Wasserstrahl lief. Unter dem Becken befand sich eine abgeschrägte Abflussrinne mit einem Metallgitter darüber. Die frei liegenden Rohrleitungen und ein drachenartiger Aluminiumschornstein hingen an Drähten. Direkt unter dem Dach hatte man einen Hängeboden eingebaut, der als Gemeinschaftslager diente. Wo früher die Kirchenbänken standen, wurde jetzt gegessen, an einem großen Holztisch mit schiefen Bänken drumherum. Der höher gelegene Altarbereich war zur Küche umfunktioniert worden. Hinten an der Wand war Brennholz aufgeschichtet, davor standen Kohleeimer. Pfannen und Woks waren in Holzkisten verstaut. Auf dem Podium, wo Absalom einst gepredigt hatte, stand jetzt ein Herd. Der Raum dahinter war mit Gardinen in Kabinen mit Nachttöpfen abgetrennt.
    »Wie findet ihr es?«, fragte Papa.
    »Wirklich sehr einfallsreich!«, bemerkte Rouge.
    Den furchtbaren Gestank aus dem Nachttopfbereich ignorierend, sagte ich Papa, dass ich beeindruckt sei.
    »Keine Fenster, und auch noch so heiß!« Rouge wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihre Bluse was klitschnass.
    »Willkommen zu Hause«, sagte Papa.
     
    Rouge und ich bekamen etwas größere Schlafkisten. Als Rouge sich in ihre hineinlegte, stieß sie sich den Kopf an. Wir wollten gerade anfangen auszupacken, da klopfte es an der Tür. Papa ging hin und öffnete sie. Eine Gruppe Leute drängte herein, Männer mit nacktem Oberkörper und Frauen in fadenscheinigen Hemden. Alle trugen Holzpantoffeln. Aufgeregt riefen sie meinen Namen.
    »Erzählen Sie mir nicht, dass Sie sich nicht an mich erinnern!«, sagte eine runzlige, wurzelkrumme alte Frau und umfasste meine Schultern.
    »Lilac?«
    »Ja, ich bin’s. Sind Sie’s wirklich, Weide?«, sagte sie schluchzend. »Wie alt Sie geworden sind! Ihre Haare sind grau und weiß. Wo waren Sie die ganze Zeit? Wo ist Pearl?«
    Bei der Erwähnung von Pearl brach ich in Tränen aus.
    »Ich kann es nicht glauben, dass ich Ihre Rückkehr noch erlebe!«, sagte Lilac. »Hier, das ist eure Tante Weide!« Sie wandte sich an ihre Söhne. Ich erkannte die Männer nicht wieder, wusste aber, dass es Doppeltes Glück David und John und ihr jüngerer Bruder Dreifaches Glück Salomon sein mussten.
    »Wo ist Zimmermann Chan?«, fragte ich.
    »Ach, der ist schon lange tot«, sagte ein zahnloser Mann.
    »Tot?«, wiederholte ich. In dem Moment erkannte ich Zimmermann Chan wieder.
    »Im Mund eines Hundes darf man nicht die Elfenbeinzähne eines Elefanten erwarten.« Lilac gab ihrem Mann einen Klaps auf den Rücken. »Seit Absaloms Tod ist Chan zu nichts mehr zu gebrauchen.«
    »Wann ist Absalom gestorben?«, fragte ich. »Und wie waren seine letzten Tage?«
    »Alter Lehrer hatte ein gutes Ende«, erwiderte Zimmermann Chan.
    »Absalom hat nicht gelitten?«
    »Nein, kein bisschen. Ich war bis zum Ende bei ihm. Alter Lehrer hat seine letzte Predigt gehalten und sich hingelegt. Kurz darauf hab ich ihn schlafend auf dem Bett gefunden, da war er schon bei Gott.«
    Eine weißhaarige Frau drängte sich durch die Menge und warf sich mir entgegen. Sie zog mit den Fingern die geschlossenen Augenlider auseinander, um sie zu öffnen, doch es ging nicht. »Raten Sie mal, wer ich bin?« Sie schob ihr Gesicht so nah an mich heran, dass ich ihren fauligen Atem riechen konnte.
    Kopfschüttelnd gestand ich, sie nicht zu erkennen.
    »Ich bin Soo-ching, die Bettlerin!«
    »Die Bettlerin, ja! Wie geht es Ihnen? Was ist denn mit Ihren Augen?«
    »Ich erkenne Sie nur schattenhaft, Weide. Ich bin blind. Aber ich kann mich an Ihr Gesicht von früher erinnern.«
    »Wie ist es Ihnen ergangen?«
    »Ich glaube an Jesus Christus«, sagte Soo-ching. »Wie geht es Pearl? Ist sie auch hier? Ich bin betrübt, dass ihr beide uns nicht mehr besucht.«
    »Wo ist Konfuzius, Ihr Sohn?«, fragte ich.
    »Sie erinnern sich an ihn? Gut!«
    »Wie könnte ich ihn vergessen? Bei diesem Namen!«
    »Er heißt nicht mehr Konfuzius«, sagte Soo-ching. »Er heißt jetzt Wegbereiter.«
    »Wegbereiter? Warum?«
    »Konfuzius ist nicht mehr der Sohn einer Bettlerin«, flüsterte mir Lilac ins Ohr. »Er ist jemand Wichtiges geworden.«
    »Stimmt«, bestätigte Papa. »Wegbereiter war der Erste in

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