Goldener Reiter: Roman (German Edition)
nicht bewegen, sage ich. Und ich konnte nichts sagen, dabei wollte ich etwas sagen. Mark schaut mich an. Er hat ganz große Augen.
Es ist schlimm, wenn man sich nicht bewegen kann, sage ich. Ich möchte, dass Mark das weiß. Ich richte mich auf. Er klopft mir die Grashalme vom Rücken.
27
Ich sitze hinter der Hecke und stelle mir Nicole vor. Sie sitzt in ihrem Zimmer am Schreibtisch und schreibt in ein Poesiealbum. Neben sich hat sie einen Radiorekorder stehen. Sie hört die Top Fofftein . Sie hört dem Moderator zu, der das nächste Lied ansagt. Dabei klebt sie Glanzbildchen in das Poesiealbum. Nicole hat braune Haare, die ein bisschen gewellt sind. Sie hat ein Grübchen in der Wange. Ich mag ihre Augen, braun sind sie.
Die Hecke wächst gegenüber von Nicoles Haus. Mein Fahrrad habe ich am Zaun vom Krankenhaus angeschlossen. Es ist eigentlich nicht Nicoles Haus. Nicole wohnt mit ihren Eltern darin, zur Miete. Es ist ein Mietshaus. Nicht wie bei uns ein eigenes Haus. Ich kauere in der Hecke, damit Nicole nicht sieht, dass ich vor ihrem Haus sitze.
Nicole weiß nicht, dass ich sie mag. Ich habe ihr nichts davon erzählt. Ich habe ihr sowieso noch nie etwas erzählt. Wenn Nicole dabei ist, kann ich nicht reden. Es kommen keine Worte aus mir heraus.
Dabei würde ich sie gerne fragen, ob ich einmal mit zum Reiten kommen kann. Nicole mag Reiten. Als ich klein war, bin ich mit meiner Mutter auf dem Ponyhof gewesen. Aber ich mochte nicht auf den Pferden reiten. Die Pferde waren zu groß zum drauf Reiten. Außerdem bin ich von einer Mauer in die Brennnesseln gefallen.
Auf der anderen Straßenseite geht die Haustür auf. Ein Mädchen mit einem Springseil kommt heraus. Das Mädchen sieht zu mir herüber.
Was mache ich, wenn Nicole aus dem Haus kommt, denke ich. Was mache ich, wenn sie herauskommt und mich in der Hecke sitzen sieht. Was mache ich, wenn sie mich fragt, was ich in der Hecke mache. Ich könnte sagen, dass ich meinen Schlüssel verloren habe. Aber warum sollte ich in einer Hecke vor ihrem Haus meinen Schlüssel verlieren? Das glaubt sie nicht. Das glaube ich selbst nicht. Ich schaue zu ihrem Fenster hoch. Vielleicht sitzt sie hinter der Gardine und beobachtet mich. Oder ihre Mutter hat mich entdeckt. Nicole, sagt ihre Mutter, da sitzt ein Junge in der Hecke und beobachtet uns. Ich weiß, sagt Nicole, das ist Jonas aus meiner Klasse.
Ich gehe geduckt zum Zaun und schließe mein Fahrrad auf.
28
Ich liege in meinem Bett. Ich frage mich, ob ich in mir so etwas wie einen Wecker habe. Einen inneren Wecker, der mich aufweckt, wenn meine Mutter nachts die Treppe hinuntergeht. Meine Mutter ist wie der Hamster, den ich einmal aus der Schule übers Wochenende mit nach Hause nehmen durfte. Der ist nachts in seinem Laufrad herumgeflitzt. Nachtaktiv nennt man das. Ich bin aufgewacht. Draußen wird es schon hell. Das kann ich durch die Ritzen vom Rollladen erkennen. Sie hat die Haustür aufgemacht. Sie ist auf die Straße gegangen. Ich kann nicht schlafen, weil meine Mutter nachtaktiv ist.
Ich schleiche ins Treppenhaus. Die Haustür steht offen. Das Licht über der Haustür ist an. Ich gucke durch die Stäbe vom Treppengeländer. Meine Mutter kann ich nicht sehen. Ich schleiche ins Badezimmer. Ich schiebe die Gardine zur Seite. Meine Mutter steht auf dem Bürgersteig. Sie hat den Morgenmantel an. Sie steht da und guckt zu den Nachbarn hinüber. Ich kann nur ihren Morgenmantelrücken sehen. Meine Mutter hält etwas im Arm. Ich kann nicht sehen, was es ist. Sie redet, das kann ich hören. Das Badezimmerfenster steht auf kipp. Aber ich kann die Worte nicht verstehen. Gegenüber sind die Rollläden heruntergelassen.
Ich stehe am Badezimmerfenster und sehe, wie sich meine Mutter auf die Fahrbahn kniet. Dabei öffnet sich der Morgenmantel. Sie wickelt Bilderrahmen aus einem Handtuch. Sie legt einen Bilderrahmen auf die Straße. Es ist der, der sonst über dem Sofa hängt. Auf dem Foto ist meine Mutter ein kleines Mädchen. Neben ihr sind ihre Geschwister. Meine Mutter hat fünf Geschwister. Sie ist aus der DDR weggegangen, als sie ein Mädchen war. Sie ist mit der U-Bahn in den Westen gefahren. Ihre Geschwister sind in der DDR geblieben. Nur ein Bruder und ihre Schwester sind später hinterhergekommen. Meine Mutter rückt in der Hocke weiter. Sie legt noch einen Bilderrahmen auf die Straße. Auf dem Foto sieht man meinen Opa, der auf einem Heuwagen steht. Mein Opa hat hohe Stiefel an und die Fäuste in die Hüften
Weitere Kostenlose Bücher