Goldener Reiter: Roman (German Edition)
Plastiktüte in der Hand.
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Ich weiß nicht, kann ja sein, sage ich.
Nein, das glaube ich nicht, sagt Mark. Das hätte doch jemand gemerkt. Mark und ich sitzen auf dem Schuldach und trinken Mezzo Mix. Es ist Nachmittag. Die Schule gehört uns, nur der Hausmeister kann sie uns nehmen.
Wieso?, sage ich. So ein Krankenhaus ist doch groß und da herrscht immer viel Betrieb. Kann doch sein, dass die in der Hektik die Babys vertauschen.
Glaub ich nicht, sagt Mark. Du siehst deiner Mutter total ähnlich.
So etwas kommt vor, sage ich. Da wurden welche bei der Geburt vertauscht und das wurde erst festgestellt, als sie schon erwachsen waren. Erst dann haben sie ihre richtigen Eltern kennengelernt.
Kann sein, sagt Mark, klar. Aber du siehst deiner Mutter nun mal total ähnlich.
Finde ich nicht, sage ich. Meine Mutter ist ganz anders.
Finde ich schon, sagt Mark. Deine Mutter ist deine Mutter. Das ist so. Kannst du mir glauben.
Ist sie nicht, sage ich. Ich kicke meine Mezzo-Mix-Dose vom Dach. Vier Stockwerke tiefer scheppert sie auf den Hof.
So etwas gibt es. Und es gibt auch Zigeuner, die Babys klauen und an Eltern verkaufen, die keine Kinder haben können.
Woher willst du denn das wissen?, sage ich. Sie ist nicht meine Mutter.
Ist sie doch, sagt Mark.
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Und was ist mit deinem Vater?, fragt er. Ich kann sein Gesicht im Dunkeln erkennen. Er schaut mich an. Da ist ein weißer Fleck in seinem Auge.
Mein Vater ist tot, sage ich. Er ist gestorben, als ich ein Jahr alt war. Mein Vater war Arzt. Er mochte Boxen. Er las englische Bücher. Er hörte Schallplatten von Elvis und den Beatles, die bei uns auf dem Dachboden liegen. Mein Vater war ein Meter sechsundachtzig. Das ist so groß, wie wenn ich auf den Hocker im Badezimmer steige.
Draußen fährt ein Auto vorbei. Ich knautsche meine Decke zurecht. Komisch, sage ich.
Was?, fragt Mark.
Ihr lebt ja auch allein, deine Mutter und du. Das ist mir noch nie so richtig aufgefallen.
Stimmt, sagt Mark. Er richtet sich im Bett auf. Durch die Jalousie fällt Licht auf seinen Schlafanzug. Er trägt einen richtigen Kinderschlafanzug, beige mit hellblauen Armen und Beinen. Ich habe ihn mir angesehen, als wir beim Zähneputzen vor dem Badezimmerspiegel standen. Auf der Brust sind Schiffe abgebildet, spanische Schiffe, sogenannte Galeonen, sagt Mark, die nach Amerika fahren.
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Ich schließe die Haustür auf. Stimmen aus dem Wohnzimmer. Meine Mutter und eine Männerstimme. Lachen. Eine fremde Jacke hängt am Garderobenständer. Und ein fremdes Paar Schuhe steht da. Ein Mann ist bei meiner Mutter. Die Wohnzimmertür ist geschlossen. Ich stelle mir meine Mutter vor, wie sie auf dem Sofa sitzt und Zigaretten raucht. Sie sitzt dicht beim Mann und lacht. Sie hat sich eine neue Frisur machen lassen, eine Dauerwelle. Sie ist geschminkt und hat ihr wallend rotes Kleid an. Der Mann hat eine Hand auf dem Bein von meiner Mutter. Ich gehe in die Küche. Auf dem Kühlschrank steht eine Flasche. Die Flasche ist leer. Sie riecht nach Alkohol. Ich stelle mir vor, wie sie drinnen Alkohol trinken und Zigaretten rauchen. Sie lachen und verstehen sich prima, besser als meine Mutter und ich. Morgen früh steht meine Mutter mit Udo Lindenberg in der Hand da und sagt, das ist jetzt dein neuer Papa. Gemeinsam werfen sie Bilderrahmen aus dem Badezimmerfenster. Zur Hochzeit bestellen sie eine Torte mit Widmung, die auf einem Autodach vorbeigefahren wird. Ich will nicht Udo Lindenberg als Papa haben. Ich will überhaupt keinen Papa haben. Sie heiraten und dann lassen sie mich allein. Wie früher, wenn im Autoradio das Lied kam, wo der Sänger mit dem Flugzeug über die Wolken fliegen wollte. Ich saß hinten auf der Rückbank und vorne sang meine Mutter Ich wär’ gerne mitgeflogen , und ich wusste nicht, ob sie es ernst meint. Bitte flieg nicht, Mama, habe ich gesagt, hinten auf der Rückbank, und meine Mutter hat gelacht über mich.
Ich gehe hinauf in mein Zimmer. Ich lasse die Tür angelehnt. Ich mache kein Licht an. Ich sitze auf dem Bett und schalte meine Ohren ein.
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Ich schließe die Zimmertür. Ich lasse den Rollladen hinunter. Ich taste mich zum Radiorekorder, der im Regal steht. Die Kassette ist eingelegt. Ich habe ein Foto von KISS ausgeschnitten und in die Kassettenhülle getan. Ich mache den Radiorekorder an. Ich stelle mich in die Mitte des Zimmers. Mit breiten Beinen stehe ich da. Ich hänge mir den E-Bass um. E-Bass ist wichtig. Ich bin geschminkt und habe mein
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