Goldener Reiter: Roman (German Edition)
Fledermauskostüm an. Ich schüttele meine langen Haare. Ich knurre, weil ich will, dass es losgeht. Ich klopfe gegen den Bass, der wie ein Henkerbeil aussieht. Licht spiegelt sich in der Klinge. Es geht los. Wir spielen. Ich drehe den Radiorekorder lauter. Ich schlage die Saiten meines Basses an. Dunkle Töne wummern heraus, sickern auf den Teppich. Sie kriechen durch den Boden und tropfen von der Decke des Wohnzimmers meiner Mutter auf den Kopf. Meine Mutter sitzt auf dem Sofa und wundert sich. Ich knurre, aber ich kann mich nicht hören. Ich strecke die Zunge heraus, so weit es geht. Ich lasse sie kreisen. Ich schwenke den Kopf. Ich trete mit den Stiefeln gegen den Schreibtisch. Der Schreibtisch kracht. Ich trete und der Schreibtisch knickt ein. Ich trete gegen das Regal. Das Regal bricht zusammen. Ich zerbeiße die Patrone in meinem Mund. Ich ramme meinen Rücken gegen die Heizung. Blut quillt zwischen meinen Lippen hervor. Es quillt und verfängt sich in meinen Haaren, die ich schüttele. Es läuft meinen Hals hinunter. Es tropft auf den Teppich und hinterlässt dort ein Muster. Ich schüttele mich, ich stampfe, ich knurre, ich brülle, ich bin lauter als die Musik, aber es ist mir egal.
35
Liebe Nicole, schreibe ich. Ich schaue mir die Anrede an. Die Anrede ist in Ordnung. Liebe Nicole, steht da in grüner Tintenschrift. Ich sitze an meinem Schreibtisch und sehe die Masten über der Autobahn an. Liebe Nicole, habe ich geschrieben. Ich kaue auf meinem Füller herum. Ich stelle mir vor, wie ich den Brief im Erdkundeunterricht durch die Reihen wandern lasse. Nicole, steht auf dem zusammengefalteten Brief. Der Brief wird Nicole niemals erreichen. Einer von den Jungs macht den Brief auf. Ich sehe die Jungs vor mir, wie sie sich den Brief gegenseitig vorlesen. Die Jungs lachen sich tot, wenn sie meinen Brief lesen. Da kann ich mich gleich in der Pausenhalle hinstellen und brüllen: Ich liebe Nicole!
In der großen Pause gebe ich ihr den Brief. Ich gehe zu ihr hinüber und sage: Nicole, hier ist ein Brief für dich. Dann wende ich mich ab, damit sie nicht sieht, dass ich rot werde. Nicole steht in der Ecke der Pausenhalle und liest meinen Brief. Von einem Klassenkameraden lasse ich beobachten, wie sie reagiert. Ihre Freundinnen stehen um sie herum, Nicole und die Freundinnen kichern.
Ich muss Nicole einen Brief schreiben. Ich weiß, dass Carsten in Nicole verliebt ist. Carsten kann richtig mit Nicole reden. Er hat in der Klasse mit ihr geredet. Sie haben zusammen gelacht. Ich muss einen Brief schreiben, um eine Chance zu haben. Ich kille mit dem Killer einen Tintenfleck auf dem Papier weg. Ich gucke die Lampen über der Autobahn an. Ich lese meinen Brief noch einmal durch: Liebe Nicole.
36
Ich sitze auf der Schaukel, aber ich schaukel nicht. Ich halte mich an den Ketten fest. Um mich herum ist Lichtung. Und um die Lichtung herum ist Wald. Ich sitze in der Mitte der Lichtung. Bei einem Orkan nennt man das im Auge des Orkans, wie ich sitze. Die anderen spielen Fußball. Ich kann sie Fußball spielen hören. Ich will nicht Fußball spielen. Ich muss auf meine Mutter aufpassen. Meine Mutter sitzt mit den Eltern auf Holzstümpfen beim Grillplatz. Der Grillplatz liegt am Rand der Lichtung. Ich habe meine Mutter mit auf den Ausflug genommen. Ich wusste, dass es ein Fehler ist. Ich habe meine Mutter mitgenommen, weil Kinder ihre Eltern gerne mitnehmen. Es ist komisch, wenn ein Kind sagt: Ich möchte meine Mutter lieber nicht mitnehmen. Die anderen haben sich gefreut auf den Ausflug. Ich schaukel, das heißt, ich tu so, als würde ich schaukeln. Die Kinder machen den Ausflug, um im Wald zu sein und Fußball zu spielen und zu grillen. Die Eltern machen den Ausflug, um Alkohol zu trinken. Die Eltern sitzen auf den Holzstümpfen und auf Decken und trinken Alkohol. Sie haben Decken auf dem Gras ausgebreitet. Meine Mutter lacht. Ich kann ihr Lachen aus dem Lachen der Eltern heraushören, weil sie zu laut lacht. Sie sitzt auf einer Decke neben einem Mann mit Bart. Sie hat ihre Schuhe und Strümpfe ausgezogen. Sie sitzt zu dicht an diesem Mann. Ich glaube, es ist der Vater von Hendrik. Ich kenne die Väter noch nicht genau. Der Vater hat eine Flasche Bier in der Hand. Meine Mutter lacht. Sie braucht keinen Alkohol zu trinken. Die anderen Eltern lachen über meine Mutter. Sie lachen und zwinkern sich zu. Und meine Mutter lacht am lautesten von allen. Sie hat einen Plastikbecher in der Hand. Ich drehe die Schaukel ein.
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