Goldener Reiter: Roman (German Edition)
Mit den Füßen ziehe ich die Schaukel auf, wie man einen Wecker aufzieht, bis ich mit den Füßen nicht mehr auf den Boden komme. Ich halte mich an der Stange fest. Meine Mutter sitzt neben einem Mann mit Bart. Ich lasse los. Ich drehe mich. Ich lasse den Wald und die Bäume und die Lichtung und die Grillplätze und die anderen verfliegen.
Los, sagt Dirk. Jetzt sitz hier nicht auf der Schaukel. Du bist doch kein Baby. Ich schaue Dirk an. Dirk dreht sich. Mir ist schwindelig. Sein Gesicht ist rot und ihm klebt das Haar auf der Stirn. Komm mit Fußball spielen, sagt Dirk.
Ich gehe mit Dirk auf den Bolzplatz. Ich schaue nicht zu den Grillplätzen hinüber. Die anderen gucken mir entgegen. Ich gucke meinen Füßen beim Gehen zu. Der Boden von der Lichtung ist aus Sand. Auf Sand kann man nicht gut Fußball spielen.
Wo ist meine Mutter?, frage ich. Meine Mannschaft hat zwei zu eins verloren. Ich bin Verteidiger. Ich muss aufpassen, dass die feindlichen Stürmer keine Tore schießen. Es ist meine Aufgabe. Ich habe nicht auf meine Mutter geachtet. Es war ein Fehler. Ich stehe im Sand vor den Holzstümpfen und den Decken. Wo ist sie?, frage ich.
Nun mach dir mal keine Gedanken, sagt die Mutter von Dirk. Sie ist ein bisschen in den Wald gegangen, sagt sie, spazieren. Sie ist einfach spazieren im Wald. Die kommt schon wieder, du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich schaue die Mutter von Dirk an. Ich sage nichts. Der Vater mit dem Bart guckt auf den Boden. Er guckt die Bierflasche in seiner Hand an. Neben ihm auf der Decke sitzt eine Mutter mit blonden Haaren.
Die Dorothea hat ein bisschen viel getrunken, sagt sie.
Hahaha, lacht ein anderer Vater. Ein bisschen ist gut.
Nun lass mal, sagt die Mutter von Dirk.
Die war vielleicht drauf, sagt der andere Vater. Er nickt Dirks Mutter zu.
Meine Mutter hat nicht getrunken, sage ich. Die Eltern sehen mich an.
Das Problem ist nicht, dass sie getrunken hat. Das Problem ist, dass ich nicht aufgepasst habe. Ich hätte aufpassen müssen. Ich hätte es wissen müssen. Es ist meine Aufgabe, auf meine Mutter aufzupassen. Jetzt ist sie in den Wald gegangen. Sie ist im Wald verschwunden. Ich hätte es wissen müssen. Das hätte nicht passieren dürfen. Ich gehe sie suchen, sage ich.
Das wirst du nicht, sagt der Vater mit dem Bart. Die kommt schon von allein wieder. Wir räumen hier gleich alles zusammen. Die kommt schon noch.
Ich sage nichts. Ich drehe mich um. Ich gehe auf die Bäume zu. Ich gehe meine Mutter suchen. Ich muss sie suchen.
Mama, rufe ich.
Das Licht ist grün im Wald. Es ist, als würde man unter einem grünen Dach gehen. Die Bäume sind Eichen. Man kann die Eichen am Stamm und an den Blättern erkennen. Das weiß ich von meiner Mutter. Sie hat mir früher die Pflanzen erklärt, wenn wir abends spazieren gegangen sind. Meine Mutter kennt sich mit Pflanzen aus. Mama, rufe ich.
Es ist merkwürdig, durch den Wald zu gehen und seine Mutter zu suchen. Es ist merkwürdig, die eigene Stimme im Wald zu hören. Ich mag meine Stimme nicht hören. Ich stelle mir vor, wie die anderen auf der Lichtung lachen, wenn sie meine Stimme hören. Aber es ist mir egal. Ich muss meine Mutter finden. Ich kann sie nicht allein im Wald lassen. Ich höre dem Rauschen der Bäume zu und dem Knacken im Unterholz. Sonst ist nichts zu hören. Ich fange an zu laufen. Mama, rufe ich. Ich komme an eine Kreuzung. Ich darf mich nicht verlaufen. Ich muss den Weg zur Lichtung zurück finden. Ich laufe nach rechts. Es geht einen Hang hinunter. Ich muss an das Märchen von Hänsel und Gretel denken. Hänsel und Gretel haben ihren Weg mit Steinen oder Brotkrumen markiert. Aber ich habe keine Brotkrumen. Und meine Mutter auch nicht. Weder Brotkrumen noch Steine liegen auf dem Weg. Was mache ich, wenn ich meine Mutter nicht wieder finde?
Ich kann meine Mutter nicht allein im Wald lassen. Ich kann nicht mit den anderen nach Hause fahren. Ich muss meine Mutter wieder finden. Warum ist sie allein in den Wald gegangen? Warum hat sie nicht Bescheid gesagt? Warum muss sie immer solche Sachen machen? Ich laufe den Hang hinunter. Ich laufe an Büschen vorbei. Ich kann meine Mutter nicht entdecken. Ich renne und rufe. Meine Stimme ist nicht meine Stimme. Meine Stimme klingt zu laut und zu schrill im Wald. Ich renne und schreie. Wie kann sie das machen, denke ich. Warum denkt sie nicht an mich. Warum denkt sie nicht daran, dass ich sie suchen muss und dass ich aufpassen muss. Warum kann sie denn nicht einfach mal
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