Goldener Reiter: Roman (German Edition)
an mich denken. Mama, brülle ich. Es ist mir egal, ob die anderen lachen. Mama!
Auf der Lichtung haben die anderen die Decken zusammengelegt und in die Autos gepackt. Sie haben die Servietten und die Flaschen zusammengesammelt und in den Mülleimer geworfen. Der Fußball ist im Auto. Meine Mutter ist nicht auf der Lichtung.
Wo ist sie?, frage ich. Dirk guckt mich an, als könnte ich etwas dafür, dass meine Mutter nicht da ist. Seine Mutter legt mir die Hand auf den Rücken.
Sie ist zu Hause, sagt sie. Sie ist bestimmt schon zu Hause.
Wir müssen sie suchen, sage ich.
Jonas, sagt sie. Ich sage nichts. Ich gucke Dirks Mutter nicht an, sondern die Bäume. Irgendwo hinter diesen Bäumen läuft meine Mutter durch den Wald.
Ich sitze im Auto von Dirks Mutter. Am Fenster sitze ich und gucke raus, wie schwarze Bäume an uns vorbeigleiten. Marco sitzt neben mir und Dirk vorne. Ich weine, aber es ist mir nicht peinlich.
Schau mal, wenn du nach Hause kommst, wartet deine Mutter schon auf dich, sagt Dirks Mutter. Da bin ich sicher. Dirk guckt aus dem Fenster. Ich sage nichts. Meine Mutter ist in den Wald gegangen. Sie ist darin verschwunden. Meine Mutter ist im Wald verloren gegangen. Und die anderen Eltern haben gelacht und nicht mitgesucht. Meine Mutter ist verschwunden. Im Wald.
Nun mach dir mal keine Sorgen, sagt die Mutter von Dirk.
37
Soll ich mitkommen?, fragt sie. Sie klappt den Sitz nach vorne, damit ich aussteigen kann.
Nein, sage ich. Ich zwänge mich an Marco vorbei aus dem Auto.
Ich komme mit, sagt sie.
Im Flur brennt Licht, das kann ich durch die Tür erkennen.
Ich schließe die Haustür auf. Meine Mutter sitzt in der Küche. Sie sitzt einfach in der Küche und raucht Zigaretten. Sie ist zu Hause, sage ich.
Kann ich dich allein lassen?, fragt die Mutter von Dirk.
Ich kann Marco und Dirk im Auto sitzen sehen. Die Scheinwerfer vom Auto sind an. Ja, sage ich.
Ich mache die Haustür zu. Ich ziehe meine Schuhe aus. Ich hänge meine Jacke an die Garderobe. Ich höre, wie meine Mutter ihren Stuhl in der Küche zurückschiebt. Meine Mutter steht auf. Sie kommt in den Flur. Ich sehe meine Mutter nicht an. Ich gehe die Treppe hoch. Ich schaue mir den Teppich auf den Treppenstufen an. Der Teppich auf den Stufen ist schmutzig. Da müsste einmal neuer Teppich verlegt werden. Ich habe die Hand auf dem Geländer. Ich gehe hinauf in mein Zimmer, Schritt für Schritt. Meine Mutter steht im Flur und schaut mir hinterher. Joni, sagt sie. Ich antworte nicht. Ich öffne die Tür zu meinem Zimmer. Ich schließe die Tür hinter mir. Ich erreiche mein Bett. Ich lege mich auf das Bett. Ich vergrabe mein Gesicht im Kissen. Es ist wie ein Sturm. Auf einmal ist alles offen. Meine Nase, meine Augen und mein Mund. Ich kann nicht mehr. Es ist zu viel für mich. Da ist mein Kissen und mein Bett. Da ist mein Zimmer und die Treppe und meine Mutter. Es ist zu viel. Meine Mutter ist nicht mehr im Wald. Sie ist zu Hause und raucht Zigaretten. Sie ist gar nicht verloren gegangen.
Joni, sagt sie. Klein klingt ihre Stimme, klitzeklein. Ich hebe den Kopf aus dem Kissen. Sie steht in der Tür. Sie sieht mich an. Sie ist im Wald. Sie lebt jetzt bei den Tieren. Sie ist nicht meine Mutter. Sie kommt auf das Bett zu. Sie setzt sich neben mich auf das Bett. Ich vergrabe mein Gesicht im Kissen.
Sie legt mir die Hand auf den Rücken. Sie streicht über meinen Rücken. Es tut weh. Sie soll damit aufhören. Ich will nicht. Ich will es einfach nicht.
Ich war spazieren, sagt meine Mutter. Ich bin im Wald spazieren gegangen und habe mich verlaufen. Irgendwann kam ich an eine Straße. An der bin ich langgegangen, bis ich an eine Telefonzelle kam. Ich habe mir ein Taxi gerufen.
Na und, denke ich. Es ist alles, was ich denken kann. Na und.
Es tut mir leid, sagt meine Mutter.
Na und, denke ich.
38
Es ist spät. Es ist zwei Uhr oder drei Uhr nachts. Meine Mutter schlägt gegen die Wohnzimmerwand. Es ist die Wand zum Nachbarn, gegen die sie schlägt. Ich stelle mir vor, wie der Nachbar in seinem Haus sitzt und den Schlägen zuhört. Meine Mutter schreit beim Schlagen. Stellen Sie die Maschine aus!, schreit sie. Die Maschine muss aus!
Ich höre sie auf und ab gehen. Ich höre sie mit sich selber reden. Die Worte kann ich nicht verstehen. Ich liege in meinem Bett. Meine Mutter geht im Wohnzimmer auf und ab. Sie stößt gegen Möbel. Sie schlägt gegen die Wand. Das Wohnzimmer ist genau unter meinem Zimmer. Die Wand, gegen die sie schlägt,
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