Goldener Reiter: Roman (German Edition)
Birgit und Sabine vor der Plakatzeitung steht. Ich höre Dirk beim Reden zu.
Ich mache eine Party, sagt Dirk.
Wo?, fragt Marek.
Bei uns im Keller, sagt Dirk. Wir haben einen Partykeller.
Kann ich da auch kommen?, fragt Marek.
Klar, sagt Dirk. Deswegen erzähle ich dir das ja.
Dirk isst Weintrauben beim Reden. Er holt die Weintrauben aus einem durchsichtigen Plastikbeutel. Ich kenne diese Weintrauben. Ich weiß, dass die Weintrauben von Dirk keine Kerne haben. Die Mutter von Dirk holt immer die Kerne aus den Trauben, bevor sie sie in den Plastikbeutel tut. Wie sie das hinkriegt, weiß ich nicht. Wie kriegt man die Kerne aus den Trauben? Dirk steckt sich eine in den Mund. Dirk ist der einzige Mensch, den ich kenne, der entkernte Weintrauben isst.
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Ich nehme den Hörer von der Gabel. Ich schaue nicht hoch. Ich schaue das Telefon an. Meine Mutter ist nicht zu Hause. Sie ist irgendwo draußen in ihrem Elefantenkleid. Ich mag nicht in den Spiegel sehen. Ich wähle die Nummer. Jedes Kind kennt die Nummer. Jedes Kind kennt die Nummer im Schlaf.
Können Sie bitte meine Mutter abholen, bitte?
Ich kann nicht mehr, Sie müssen sie mitnehmen, bitte.
Ich schaffe es nicht mehr, ich bin ja nur ein Kind, bitte.
Ich lege den Hörer auf die Gabel. Ich schaue mir im Spiegel in die Augen. Mitten in die Augen. Ich weiß nicht, ob es richtig ist.
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Ich gehe die Hauptstraße hinunter. Ich komme aus der Schule. Autos fahren an mir vorbei und ein Hund kommt mir entgegen und eine Frau und ein Mädchen. Und wieder Autos und ein Radfahrer und Büsche, nochmal Büsche. Und ein Holzzaun.
Ich gehe am Sackgassenschild vorbei. Das Sackgassenschild gehört zu unserer Straße. Ich gehe am Frisörgeschäft vorbei. Der Frisör hat einen Dackel, der normalerweise im Schaufenster sitzt. Beim Frisör lassen sich Omas die Haare schneiden. Im Schaufenster hängt eine schmutzige Gardine. Sie ist schmutzig, weil der Frisör alt ist. Der Frisör heißt Kralke. Das steht in geschwungener Schrift auf dem Schaufenster. Der Dackel sitzt nicht da. Ich sehe die Straße hinunter. Ein Polizeiauto steht vor unserer Tür.
Ich bleibe stehen. Vor unserem Haus steht ein Polizeiwagen. Ich stehe am Eingang einer Sackgasse. Vor einem Frisörgeschäft stehe ich. Ich spähe die Straße hinunter. Sie dürfen mich nicht sehen, denke ich. Sie dürfen mich nicht kriegen. Einer aus der Familie muss frei bleiben.
Vielleicht ist es aber auch besser, wenn jemand da ist, der mit den Polizisten redet. Ich muss wissen, wo sie meine Mutter hinbringen. Vielleicht braucht mich meine Mutter. Ich stehe auf der Stelle. Mit meinem Schulranzen auf dem Rücken. Ich stehe an der Einmündung einer Sackgasse. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Ich starre einen Polizeiwagen an.
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Mark ist ein Spinner, sagt Dirk. Er schaut aus dem Fenster. Wir fahren an einem rotbraunen Hund auf dem Gehweg vorbei. Dirk sitzt am Fenster, ich sitze zum Gang hin.
Ist er nicht, sage ich.
Mark sitzt drei Reihen weiter vorne. Der Sitz neben ihm ist leer. Dirk setzt die Kopfhörer von seinem Walkman auf. Es hardrockt zu mir herüber. Wir fahren durch die Stadt. Ich schaue an Dirk vorbei aus dem Fenster. Ich kann sowohl die Häuser sehen als auch mein Gesicht. Mein Gesicht spiegelt sich in der Scheibe. Wir sind wieder in der Stadt. Gerade waren wir noch auf dem Land. Als wären wir niemals fort gewesen. Nur ein paar Bilder im Kopf sind noch da. Wie wir am See sitzen und mit Steinen nach den Enten werfen. Wie wir abends in die Mädchenzimmer schleichen. Ich mache die Augen zu. Ich mag es nicht, von der Klassenreise nach Hause zu kommen. Ich freue mich schon auf die Schule. Das ist so, wenn man von der Klassenreise kommt. Man freut sich darauf, weil man die anderen wieder sehen kann. Das ist sonst nie so. Höchstens nach den Sommerferien.
Ich stelle mir meine Mutter vor, wie sie mit den anderen Eltern bei der Schule wartet. In ihrem Mantel steht sie da und raucht Zigaretten, eine nach der anderen. Allein steht sie da, weil sich niemand mit ihr unterhalten mag. Die anderen Eltern reden alle miteinander. Ich will nicht, dass meine Mutter auf mich wartet. Mir wäre es lieber, sie wäre zu Hause und ließe mich allein ankommen. Ich schaue zu Nicole hinüber, die weiter vorne sitzt, auf der anderen Seite des Ganges.
Wir fahren über die Autobahn. Wir fahren an der Kirche vorbei. Wir biegen in die Straße ein, in der unsere Schule liegt. Ich kann den Pulk mit den Eltern schon von weitem
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