Goldfalke (German Edition)
draußen am Fenster und sagte: „Wie befohlen, Meister!“
„ Hab keine Furcht, das ist nur mein Dschinn“, erklärte Sayed. „Nun nimm die Stöcke, Amir, halte sie alle zusammen und brich das Bündel mitten entzwei!“
Zögernd nahm Amir das entgegen, was der Dschinn ihm gab. Es waren drei armlange Holzstöcke. Sogleich verwandelte sich der Dschinn in einen gelben Nebel, der sich vor aller Augen verzog.
Zitternd vor Anstrengung versuchte Amir, Sayeds Befehl auszuführen, doch so sehr er auch seine beachtliche Muskelkraft abmühte, er konnte das Bündel nicht zerbrechen.
„Und nun nimm dir die Stöcke einzeln vor!“, ordnete Sayed an.
Amir gehorchte und schaffte es problemlos, aus jedem der drei Stecken Kleinholz zu machen.
„Allein ist keiner der Stöcke stark genug, um einem Angriff zu widerstehen, nicht wahr?“ Der Großwesir lächelte Amir nachsichtig an. „Zu dritt jedoch waren die Stöcke nicht zu brechen. Das ist der Grund, warum keiner von euch allein loszieht.“
Noch immer zornig wandte sich Nesrin an Amir: „Was hast du eigentlich für ein Problem mit Mädchen, Alter? Du gehörst wohl zu den Blödmännern, die sich für was Besseres halten, nur weil sie einen Schwanz …“
„Nesrin!“, unterbrach Ava entschieden.
„Männer stehen nicht umsonst über den Frauen“, verteidigte Amir seinen Standpunkt. „Schließlich sind sie viel stärker.“
„ Esel sind auch viel stärker als Menschen“, zischte Nesrin. „Aber trotzdem stehen sie nicht über dem Reiter.“
„Männer verdienen das Geld und ernähren die Fam ilie.“ Amir gab sich nicht geschlagen.
Nesrin auch nicht. „Das können Frauen bei uns auch.“
Amir ballte die Fäuste. „Männer können besser kämpfen und Feinde töten. Deswegen steht ihnen eine höhere Stellung zu. Frauen sind nur dazu da, Kinder zu kriegen, zu kochen und zu putzen.“
Nun mischte sich Sayed ein: „Und dieses zumeist weibliche Handwerk des Lebens ist in deinen Augen weniger wert als das zumeist männliche Handwerk des Todes, mein Sohn?“
Halb schadenfroh, halb mitleidig beobachtete Kiana an Amir das, was Sayed bei ihr auch i mmer gelang, nämlich mit einem gezielten Satz alles auseinander zu nehmen, was man sein Leben lang als Wahrheit eingetrichtert bekommen hatte.
In Amirs überrumpelte s Schweigen hinein schüttelte Ava betrübt den Kopf. „Wie konnten die Frauen der Trüben Welt das bloß zulassen?“
„Das ist deren Sache“, meinte Kassim. „Hier bei uns ist das anders. Schau dir meine Toc hter an, Junge! Was den Frauen an Körperkraft fehlt, machen sie beim Kämpfen wett mit Wendigkeit, größerem Rundumsehvermögen und der Fähigkeit, Schmerzen besser wegzustecken. Lass dir das von einem Krieger gesagt sein! Wenn du mit der Geweissagten und der Simurgh-Tochter losziehst, solltest du dich von den Vorurteilen befreien, die du von daheim mitgebracht hast. Vorurteile trüben die Sicht eines Kriegers, und das kann tödlich sein.“
„Jetzt weißt du auch“, warf Ava fast spöttisch ein, „warum wir de ine Heimat die Trübe Welt nennen.“ Ihre Gesichtszüge wurden ernst. „Du wurdest ausgewählt, weil Kiana dir vertraut, mein Sohn. Wenn du dich jedoch außerstande siehst, mit ihr und Nesrin gemeinsam auf die Suche zu gehen, schicken wir einen anderen an deiner Stelle.“
Jetzt wirkte Amir kleinlaut. „Nein, ich m ache es schon.“
„Wie gnädig!“, lästerte Nesrin und erntete Avas str afenden Blick.
In dem Moment trat die durchsichtige Frau in dem silbrigen Rock hinter Kassim durch die Wand, sah sich kurz um und verschwand durch die - geschlossene - Tür, die in den Flur führte.
„Das ist nur die Silberfrau“, raunte Kiana dem erstaunten Amir zu und erlaubte sich einen Moment lang die Befriedigung vorgetäuschten Bescheidwissens.
„ Auch wenn Amirs Bedenken vielleicht nicht gänzlich ausgeräumt sind“, meinte Sayed, ohne auf die Silberfrau einzugehen, „müssen wir noch einmal auf die Geschehnisse des heutigen Tages zurückkommen. Berichte du uns von eurer Reise, Kiana! Vielleicht gelingt es uns mit Hilfe deiner Sichtweise, etwas mehr von dem zu verstehen, was sich in der Karawanserei zugetragen hat.“
Obwohl Nesrin verkündet hatte, drei Tage lang durchschlafen zu wollen, ächzte sie sich dann doch am nächsten Morgen allmählich aus dem Bett.
Kiana war lange vor ihr aufgestanden und hatte sich erleichtert den Sand aus den Haaren g eduscht. Gestern nach der Besprechung waren sie und Nesrin einfach ins Bett
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