Goldfalke (German Edition)
in der Lage, aufrecht zu stehen!“
„Das ist schon okay“, antwortete Nesrin. „Aufrechtstehen wird übe rbewertet. Wir packen das schon.“
Sayed ging die Treppe hoch. Als alle ihm folgten, blieb er stehen und drehte sich um. „Nur Kiana, Nesrin und Ava dürfen mit zur Herrscherin. Die Palasträte erwarte ich im Besprechungszimmer! Euch anderen werde ich anschließend berichten, was besprochen wurde.“
Die Haushofmeisterin und die Mädchen folgten ihm die Treppe hoch. Er führte sie direkt ins Schlafgemach der Herrscherin. Ava schloss leise die Tür hinter sich.
Soraya befand sich in ihrem Bett. Blass und leblos lag sie da . Schlafend.
Oder tot.
Fatima saß daneben in einem Sessel und winkte die Mädchen herbei.
Die Herrscherin öffnete ihre A ugen. „Setzt euch zu mir!“
„Aber wir sind schmutzig“, sagte Kiana verlegen, „verschwitzt und voller Sand!“
Sorayas überirdisch schönes Gesicht wurde durch die Andeutung eines Lächelns belebt. „Das macht nichts. Ich bin so froh, euch unversehrt zu sehen. Habt ihr gefunden, was zu suchen ihr ausgezogen seid?“
Während sich Kiana vorsichtig auf die Bettkante setzte, plumpste Nesrin ohne Skrupel mit ihrem ganzen Hintern darauf nieder. Den Sand, der dabei aus ihrer Hosentasche gerieselt war, fegte sie achtlos beiseite. „Ki und ich haben die Schriftrolle gekriegt, werden aber nicht recht schlau aus ihr. Wir hoffen, dass die Lösung in dem einen Wort steckt, das ich nicht lesen kann. Denn der Rest ist nur philosophisches Blabla.“
Sayed rollte beide Schriften auf. „Welches Wort ist das?“
Nesrin schaute auf die Rollen, zog dabei eine nachdenkliche Schnute und zeigte dann auf eines der aufgeschriebenen Symbole. „Das da.“
Der Großwesir studierte das Zeichen genau. „Der Schatten.“
„Was?“
„Dieses Wort heißt Schatten .“
„Einfach nur Schatten? “ Nesrin runzelte die Stirn. „Zuerst all dieses Überdrüber-Weisheitszeug von Geistseele, Weltseele und so weiter, und dann einfach nur … Schatten?“
„Das macht durchaus Sinn.“ Sayed ließ den Papyrus sinken. „Der Schatten ist wie alle anderen Punkte, die hier aufgeführt sind, für jedes Lebewesen unverwechselbar.“
Nesrin wandte sich an Kiana: „Das hilft uns jetzt nicht gerade we iter, oder?“
Fassungslos vor Enttäuschung sprang Kiana auf. „Dann war alles umsonst? Diese Schriftrolle war meine ganze Hoffnung. Und jetzt bin ich meiner Mutter keinen Schritt näher.“
„Setz dich wieder, meine Tochter!“ Obgleich die Stimme der Herrscherin leise und brüchig war, besaß sie dennoch genug Autorität, dass Kiana g ehorchte.
„Sahmaran verfügt über die Erfahrung vieler Leben“, sprach Soraya weiter. „Sie hat dich sicher weise beraten, als sie dich auf die Suche schickte. Nun bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass du, kleine Ki, die Schicksalswenderin bist, wie die Seherin geweissagt hat. Denn wer sonst hätte jene Schriftrolle bergen können?“ Sie sah auf Nesrin. „Und du, liebes Simurgh-Kind, bist für Kiana eine unersetzliche Hilfe. Ich hoffe, Amir … wird seine Aufgabe … auch so … vortrefflich erfüllen … wie … ihr, so … dass … dass … ihr …“ Die Worte versiegten, als die Königin die Augen schloss und wegdämmerte.
„Geht jetzt!“, befahl Fatima barsch. „Ihr habt sie erschöpft.“
„Aber wir haben ihr noch gar nichts von der Ehernen Festung und Damon und der Zerstörung der Karawanserei e rzählt“, protestierte Nesrin.
„Das übernehme ich, sobald Soraya wieder bei B ewusstsein ist.“ Ava dirigierte die Mädchen nach nebenan ins Besprechungszimmer, wo die Würdenträger des Palastes bereits im Kreis saßen. Die meisten von ihnen kannte Kiana vom Sehen, ein paar sogar mit Namen: Dort hockte Dschamal, der Gelehrte, neben dem fetten Walid mit seinem Scheich-Kopftuch und dem dünnen Haschem mit dem roten Fes. Und wie hieß diese violett gekleidete Frau noch mal?
Amir kam hinter Befehlshaber Kassim durch die andere Tür herein und warf Kiana einen prüfenden Blick zu. Alle Fragen der Umsitzenden, die auf die Mädchen einprasselten, wurden von Kassims kräftiger Stimme übertönt: „Ich hörte, dass Nesrin seltsame Aussagen über die Zerstörung der Karawanserei von sich gab und habe gleich meine besten Kundschafter losgeschickt, um zu überprüfen, ob das stimmt, oder ob die Mädchen einer Fata Morgana aufgesessen sind.“
„ Gut!“, entgegnete Sayed und nahm Platz. Fatima und Ava setzten sich neben
Weitere Kostenlose Bücher