Goldfalke (German Edition)
Endlich wurde mir die Wahrheit klar! Komm, Aziz, fliegen wir! Halte dich an mir fest!“
Aziz strahlte. „Mit dem größten Ve rgnügen.“
Sine legte ihren Federumhang an, der sich sogleich mit ihren Armen zu Flügeln verband. S ofort nachdem Aziz ihre Taille umfasst hatte, hob sie sich flatternd in die Lüfte und flog mit ihm davon in Richtung Gebirge.
Der sonst so wortreiche Hatim konnte nur noch stammeln: „Wenn ich geahnt, wenn ich g ewusst hätte …“
Fasziniert starrte Kiana der Vogelfrau und Aziz hinte rher, dann zogen die Notwendigkeiten der Gegenwart ihre Aufmerksamkeit wieder herab auf die Erde. „Möchte noch jemand gehen? Wenn nicht, so können wir endlich anfangen.“
„Jemand muss mich halten“, stöhnte Tahmasp. „Ich will nicht für die nächsten dreitausend Jahre hier kauern wie ein Häufchen Elend.“
Kiana eilte zu ihm und richtete ihn auf. Kurz, aber quälend, zuckte die Möglichkeit durch ihr Hirn, dass sie selbst von dem Fluch erfasst werden könnte, wenn sie währenddessen einen der Stehenden Weisen berührte. Doch sogleich beruhigte sie der Gedanke, dass sie die Rückversteinerung der Stehenden Weisen sowieso nicht vollbringen konnte. Bestenfalls gelang es ihr, alle damit zufrieden zu stellen, dass sie sich redlich bemühte. Wenn sie einfach so tat, als würde sie aus der Schriftrolle vorlesen, musste das genügen.
So hoffte sie z umindest.
„Halt ein, Kiana!“, rief Hatim. „Ihr anderen mögt dort verharren, wo ihr dereinst standet. Jedoch mir als eurem Poeten gebührt der Platz in eurer Mitte, damit sich jeder von euch gleichermaßen an meiner Dichtkunst laben kann.“ Seine Schultern sackten herab. „Gleich jetzt entspringt aus dem Abgrund meiner Trauer eine Ode an Sines Liebe, die ich für immer verlor.“
„Wenn einem der Platz in der Mitte gebührt, dann wohl mir!“, protestierte Ali Shah. „Denn im Gegensatz zu dir entstamme ich einer Linie von Königen.“
Kiana merkte, wie der Zorn in ihr hochstieg und den Weg zu ihren Lippen suchte. Amir kämpfte draußen um sein L eben, während die Stehenden Weisen kostbare Zeit mit Gejammer und Zank vergeudeten!
„Welch grausames Schicksal dünkt mich der Verlust einer Jahrtausende währenden Liebe, von der mitnichten ich wusste, dass ich sie hatte verschmäht! Beklage, oh du unbedarfte Welt, mit mir gemeinsam jenes unbarmherzige Los!“
Bakko und sein Dschinn trabten auf Kiana zu. „Re tte mich vor dem Untier, Geweissagte!“
Kiana griff zu und erwischte den Esel an der Mähne. Während sie gleichzeitig versuchte, Tahmasp nicht loszulassen, flutschten ein paar von Onkel Abdullahs Lieblingsflüchen durch ihre zusammengepressten Zähne hindurch, was ihr bisher immer eine von Tante Shabnams gefürchteten Backpfeifen eingehandelt hatte.
„ Sie fängt schon an mit dem Fluch! “, kreischte Hatim entsetzt und rannte panisch hin und her. „Oh nein, ich muss zuerst noch einen würdigen Platz für mich suchen!“
„Sie fängt an!“, wisperte sich das Gerücht nach und nach durch alle Anwese nden hindurch. „Sie fängt an!“
„Was? Es fängt schon an?“, rief der dicke Kaufmann und schaute an sich herab. Die Falten seines langen Gewandes begannen bereits, sich in grauen Fels zu verwandeln. Zugleich löste sich der Esel, den Kiana festhielt, in Luft auf.
Mit drei langen Sätzen war Kemal bei Tahiramis. Verwundert blic kte sie von ihren Füßen auf, um die sich bereits Fels gebildet hatte. „Was willst du denn hier?“
Kemal grinste sie an. „Etwas, von dem ich schon seit dreitausend Jahren träume: Dir so nahe zu sein, dass ich das Licht der Sterne in deinen wunderschönen Augen sehen und mich darin verlieren kann.“
Sprachlos starrte die Kriegerin ihn an, während bei ihr die Versteinerung über die Waden kroch.
Mit neuem Mut murmelte Kiana weitere Flüche aus Onkel Abdullahs reicher Sammlung, b egleitet von den ehrfürchtigen „Oh“- und „Ah“-Lauten der Stehenden Weisen und dem Knistern, das sich ergab, als die Seide der Gewänder zu Fels erstarrte.
Endlich fand Tahiramis ihre Sprache wieder: „K emal, wir werden uns gegenseitig umbringen, wenn wir so nah beieinander stehen. Wir werden es zwar nicht schaffen, weil wir nicht sterben können, aber wir werden uns trotzdem die ganze Zeit über umbringen, mindestens die nächsten dreitausend Jahre lang.“
„Ich weiß“, hauchte Kemal. „Und ich werde jeden Auge nblick davon genießen.“
Derart entwaffnet konnte Tahiramis nur ergriffen seu fzen.
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