Goldfalke (German Edition)
entlang, eine Perlschnur aus Leben inmitten der Trostlosigkeit der Wüste. Dabei verschwanden die Kamele fast in den Rot- und Grautönen, die der Schein der Dämmerung dem sterbenden Tageslicht aufzwang. Das Ziel, auf das sich die Tiere zu bewegten, steuerte auch Nesrin an: die Karawanserei, ein gigantischer, rechteckiger, brauner Klotz mit einer hohen Mauer und kanonenbestückten Wehrtürmen an jeder Ecke. Schmucklos und unüberwindlich.
Genau das, was Kiana jetzt brauchte.
Das Eingangsportal zog sich spitz in die Höhe und bot locker Platz für zwei nebeneinander laufende, schwer bepackte Kamele. Die beiden mächtigen Torflügel waren verschlossen und öffneten sich erst, nachdem Nesrin und Kiana von ihren Teppichen gestiegen und von den vier strengen Wachen als vertrauenswürdig eingestuft worden waren. Sofort als die Mädchen den Innenhof betraten, schloss sich das Tor wieder. Endlich konnte Kiana den von Greifscheren und Stacheln und gezirpten Worten verseuchten Wüstensand hinter sich lassen, irgendwo draußen in den langen Schatten des Abends, ausgesperrt durch die Wucht des Gemäuers.
Eingefasst von Stallungen auf der linken und Ark aden mit Marktständen auf der rechten Seite beherbergte der Innenhof mehrere Brunnen und Tiertränken. Der Geruch von frischem Brot und ebenso frischem Kamelmist lag in der Luft. Laute Stimmen feilschten herzhaft, ein Esel iahte, ein Messerschleifstein quietschte. Satteldecken, silberne Armbänder und Körbe mit Äpfeln wechselten ihre Besitzer, hielten den Fluss des Reichtums und die Laune der Händler aufrecht und füllten das Gehöft mit Geschäftigkeit. Selbst jetzt am späten Abend, da hängende Öllampen und Kerzen in bunten Gläsern die Verkaufsstände beleuchteten, tummelten sich dort zahlreiche Kunden.
Mit ihren aufgerollten Teppichen unter den Armen und einer bleiernen Müdigkeit in den Knochen mischten sich die Mädchen unter das Getümmel. Geschickt huschte Baski zwischen all den Beinen hindurch.
„Oho, Nesrin!“, rief ein Mann in einem grünen Kaftan. „Schönstes Juwel des Simurgh-Landes! Tritt ein in meine bescheidene Teestube und genieße den besten Halwa diesseits des Kristallgebirges!“
„Es gibt nichts, was ich jetzt lieber täte , mein Freund“, erwiderte Nesrin. „Aber vorher muss ich Alireza sprechen. Weißt du zufällig, wo er sich rumtreibt?“
„Um die Zeit ist er meist noch in seiner Schreibstube. Versuch es doch dort!“
„Danke, mach ich!“ Nesrins zielstrebige Schritte zeugten davon, dass sie sich hier bestens auskannte.
Erschlagen von dem Wechsel zwischen einsamer Sandwüste und pulsierendem Markttreiben trottete Kiana hinter ihr her.
„Goldenes Geschmeide für schöne Mädchen“, pries eine mit klimperndem Schmuck reich behängte Frau an. „Kamelmilch, dick und süß wie der Kuss einer Königin“, warb ein kleines Männlein. Und ein glatzköpfiger Schwarzer, auf dessen Schulter eine knallrote, hühnergroße Echse saß, rief: „Elixiere, Balsame, Sonnenschutz und Zaubertränke!“ All das erinnerte stark an den Bunten Basar, wenngleich die Händler der Karawanserei ihre Waren mit deutlich mehr Marktschreierei anboten.
Im Vorbeigehen kaufte Nesrin einen neuen Provian tkorb als Ersatz für denjenigen, den Kiana bei den Skorpionen verloren hatte, und füllte ihn mit Früchten, Broten und Wasserflaschen, die erstaunlicherweise auch hier aus Kunststoff waren.
„Schau, Ki, da ist der Besitzer der Karawanserei!“ Ne srin zeigte auf einen hochgewachsenen Herrn, der aussah wie ein reicher Scheich mit weißem Gewand, weißem Kopftuch und nachtblauem Stirnreif. Sein schwarzer Bart war sorgfältig gestutzt, und seine gepflegten, mit zahlreichen Goldringen geschmückten Finger unterstrichen mit entschlossener Gestik den Befehlston seiner Worte, die er an zwei andere Männer richtete.
Nesrin drängte sich dreist zwischen die Männer. „Hallo Alireza! Tut mir Leid, dass ich dein Gespräch unterbrechen muss, aber meine Freundin und ich sind eine Flugstunde von hier auf einen Spähertrupp von zwölf Skorpionkriegern gestoßen. Ich dachte, das solltest du wissen.“
Mit einem Wedeln seiner rechten Hand schickte der Scheich die beiden anderen Männer fort, dann öffneten sich seine Arme: „Willkommen in der Karawanserei, meine Töchter! Wie du sicher schon sehen konntest, süße Nesrin, haben wir unser Warenangebot seit deinem letzten Besuch aufgestockt. Ich hoffe, du hast genügend Gold eingepackt.“ Er sah an ihr herab. „Offenbar
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