Goldgrube
Ich schwöre, daß es sich dabei weniger um Zwanghaftigkeit meinerseits handelt als vielmehr um eine Art Drang nach Erleichterung. Ich fuhr zu Harley’s Beach hinüber und fand im Schutz eines Hügels einen Parkplatz. Das Gelände war fast leer, was mich erstaunte. Meist findet sich dort eine bunte Mischung aus Touristen und Nichtstuern, Joggern, Verliebten, bellenden Hunden und Eltern mit kleinen Kindern. Heute war das einzige, was ich sah, eine Familie wilder Katzen, die sich auf der Anhöhe hinter dem Strand sonnte.
Ich stolperte über eine weite Fläche losen, trockenen Sands, bis ich den festen Grund dicht am Wasser erreicht hatte. Normalerweise hätte ich jetzt Schuhe und Socken abgestreift und die Hosenbeine hochgerollt, damit ich in der Brandung joggen konnte, aber kürzlich hatte mir jemand ein kleines Büchlein über Priele gegeben. Ich hatte es interessiert durchgeblättert und mich selbst in der Rolle der forschenden Naturfreundin gesehen, die unter den Steinen nach kleinen Krabben und Seesternen herumstochert (obwohl ihre Unterseiten absolut ekelhaft und scheußlich sind). Bevor ich dieses bunte, aufschlußreiche Heftchen gelesen hatte, hatte ich ja keine Ahnung gehabt, was für seltsame, häßliche Tierchen in Küstennähe leben. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die der Natur sentimentale Gefühle entgegenbringen. Die Wildnis besteht meines Wissens fast ausschließlich aus kopulierenden Kreaturen, die einander hinterher auffressen. Zu diesem Zweck hat fast jedes bekannte Tier taktische Maßnahmen entwickelt, mit denen es andere in seine Reichweite lockt. Bei den Lebensformen im Meer — von denen manche ja ganz winzig sind — gehören zu dieser Taktik dornenbewehrte Teile oder Scheren, putzige Mündchen mit drei Zahnreihen, lange Stachel oder bösartige Saugnäpfe, mit denen sie sich aneinanderklammern und dann den anderen zerstückeln und schmerzhaft sterben lassen — und das alles im Namen der Ernährung. Manchmal wird, lange bevor der Tod eintritt, sämtlicher Saft aus dem Opfer herausgesaugt. Der Seestern stülpt allen Ernstes seinen eigenen Magen heraus, umhüllt damit seine lebende Beute und verdaut sie außerhalb seines Körpers. Wie würde es Ihnen gefallen, mit dem nackten Fuß auf so etwas zu treten?
Ich lief mit den Schuhen und preschte durch die aufspritzende Brandung, wenn die Wellen bis zu mir herankamen. Bald klebte mir die nasse Jeans an den Beinen, und der schwere Stoff fiel kalt gegen meine Schienbeine. Meine Füße waren wie von Steinen beschwert, und ich spürte, wie der Schweiß von der Anstrengung durch das Laufen mein T-Shirt durchtränkte. Trotz der feuchten Brise, die vom Meer kam, empfand ich die Luft als bedrückend. Den dritten Tag hintereinander bliesen nun schon die Santa-Ana-Winde aus der Wüste über uns hinweg, fegten durch die Canons der Umgebung und brachten Feuchtigkeit aus der Atmosphäre mit. Die Hitze nahm zu, ein Grad nach dem anderen, wie eine immer höher werdende Backsteinmauer. Mein Tempo kam mir langsam vor, und ich zwang mich dazu, mich auf den Sand vor mir zu konzentrieren. Da ich die Strecke nicht abmessen konnte, lief ich nach Zeit, eine halbe Stunde in Richtung Norden, dann kehrte ich um und lief zurück. Als ich wieder an Harley’s Beach ankam, atmete ich stoßweise, und die Muskeln in meinen Schenkeln brannten wie Feuer. Ich verlangsamte erst zu einem Trab und dann auf Gehtempo, als ich zum Auto zurückkehrte. Einen Augenblick lang lehnte ich mich keuchend gegen die Motorhaube. Besser. Jetzt war es besser. Schmerzen waren mir allemal lieber als Beklommenheit, und Schweiß war besser als Depression.
Wieder zu Hause, ließ ich meine durchweichten Joggingschuhe vor der Türschwelle stehen. Ich trottete nach oben und schälte mich dabei aus meinen feuchten Kleidern. Dann duschte ich heiß und schlüpfte in Sandalen, T-Shirt und einen kurzen Baumwollrock. Es war jetzt kurz vor vier, und es hatte keinen Sinn, noch ins Büro zu fahren. Ich holte die Post und sah nach, ob Anrufe auf Band eingegangen waren. Es waren fünf: zweimal aufgelegt; zwei Reporter, die ihre Nummer hinterlassen hatten und mich baten, sie zurückzurufen; und ein Anruf von Peter Antle, dem Pfarrer von Guys Kirche. Ich wählte die Nummer, die er genannt hatte, und weil er sofort abnahm, mußte ich annehmen, daß er neben dem Telefon gewartet hatte.
»Peter. Ich habe Ihre Nachricht bekommen. Hier spricht Kin-sey aus Santa Teresa.«
»Kinsey. Danke, daß Sie so schnell zurückrufen.
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