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Goldgrube

Goldgrube

Titel: Goldgrube Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Flur hinabzusehen. Ich hatte keine Ahnung, welches Zimmer Guy bewohnt hatte, aber ich wollte nicht in seine Nähe kommen. Am oberen Treppenabsatz bog ich scharf links ab und ging geradewegs zu Baders Zimmer, wo ich die Tür aufstieß und die Deckenlampe einschaltete. Es schien alles in Ordnung zu sein. Der verlassene Raum war kalt und roch ein wenig muffig. Die Deckenbeleuchtung war matt, und auch die Farben im Raum wirkten fahl. Ich ging zu dem dahinterliegenden Arbeitszimmer und drückte im Vorbeigehen auf sämtliche Lichtschalter. Baders Präsenz wurde systematisch getilgt. Die Schränke waren geleert und sämtliche persönlichen Gegenstände von seinem Schreibtisch entfernt worden.
    Ich musterte meine Umgebung und entdeckte die Mappe mit den Zeitungsausschnitten über Guys Vergangenheit, erleichtert, daß die Polizei nicht hier durchgerauscht war und sie mitgenommen hatte. Andererseits war der Haussuchungsbefehl vermutlich nicht so umfassend. Die Liste der zu beschlagnahmenden Gegenstände konzentrierte sich vielleicht nur auf die Mordwaffe selbst. Ich blätterte die Ausschnitte durch und las auf der Suche nach dem Namen Outhwaite oder irgend etwas Ähnlichem eilig quer. Nichts. Ich sah noch einige der anderen Aktendeckel auf dem Tisch durch, fand aber nichts, was von Belang gewesen wäre. Wieder eine Sackgasse, obwohl die Idee gut war — jemand voller Groll, der Guy das Leben schwermachen wollte. Ich schob mir die Mappe unter den Arm und verließ den Raum, wobei ich im Vorbeigehen die Lichter wieder ausschaltete.
    Ich zog die Tür hinter mir zu und blieb im Flur vor der großen Suite stehen. Irgend etwas stimmte nicht. Mein erster Impuls war, rasch die Treppe hinunterzuhuschen, zu den erleuchteten Räumen im Erdgeschoß, aber ich merkte, wie mein Schritt sich verlangsamte. Ich hörte ein Knistern und spähte nach links. Das andere Ende des Flurs lag im Dunkeln, abgesehen von einer X-förmigen Tatortabsperrung, die sich über drei Türen erstreckte. Während ich hinsah, schien das Band beinahe aufzuleuchten, dabei vibrierte es hörbar, als rüttelte der Wind daran. Einen Augenblick dachte ich, das Band würde sich losreißen, es knackte und knatterte wie von einem Luftstrom erfaßt. Die Luft auf dem Treppenabsatz war kühl, und ich nahm den schwachen Geruch von etwas Animalischem wahr — nasser Hund oder alter Pelz. Zum ersten Mal erlaubte ich mir, das Grauen von Guys Tod an mich heranzulassen.
    Langsam stieg ich die Treppe hinab, eine Hand am Geländer, die andere fest um die Mappe geklammert. Ich wirbelte herum, da ich der Finsternis hinter mir nur ungern den Rücken zukehren wollte. Einen Moment lang musterte ich das Stück Flur, das ich sehen konnte. Irgend etwas hielt sich am Rand meines Blickfelds auf. Langsam wandte ich den Kopf um, während ich vor Angst fast aufgestöhnt hätte. Ich sah leuchtende Funken, beinahe wie Staubflocken, die sich in der Stille materialisierten. Mit einem Mal stieg eine Hitzewallung in mir auf, und in meinen Ohren klingelte es, ein Geräusch, das mich an die Ohnmachtsanfälle meiner Kindheit erinnerte. Meine Spritzenphobie hatte häufig zu solchen Wahrnehmungen geführt. Als ich noch klein war, schleppte man mich immer wieder zur Typhusimpfung, zur Blutabnahme für den Tuberkulosetest oder zur Tetanusauffrischung. Während die Krankenschwester damit beschäftigt war, meine Ängste herunterzuspielen und mir zu erklären, daß »große Mädchen« nicht so ein Theater machten wie ich, fing das Klingeln an und steigerte sich zu einem schrillen Kreischen; schließlich war Stille. Mein Gesichtsfeld schrumpfte zusammen, und das Licht sauste spiralförmig nach innen auf einen winzigen Punkt zu. Dann stieg die Kälte auf, und als ich wieder zu mir kam, fand ich besorgte Gesichter über mich gebeugt und nahm das scharfe Aroma des Riechsalzes wahr, das man mir unter die Nase hielt.
    Ich lehnte mich gegen die Wand. In meinem Mund schwamm etwas, das wie Blut schmeckte. Ich schloß fest die Augen, während ich meinen hämmernden Herzschlag und meine nassen Handflächen registrierte. Als Guy Malek schlief, war gestern abend jemand in der Dunkelheit diesen Flur entlanggeschlichen, bei sich einen stumpfen Gegenstand aus ausreichend kräftigem Material, um sein Leben auszulöschen. Weniger als einen Tag war das her. Weniger als eine Nacht. Vielleicht war nur ein Schlag nötig gewesen, vielleicht mehrere. Was mich marterte, war die Vorstellung dieses ersten knochenzertrümmernden Krachens, unter

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