Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
begriff er: Niemand war in seinem Zimmer. Wie jede Nacht seit dem letzten Wochenende hatte sein Hirn im Schlaf versucht, seine traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Das Licht, von dem er geglaubt hatte, es käme von einer Taschenlampe des Schattens an der Tür, hatte seinen Ursprung in nichts anderem als seinem Wecker.
Nachdem er am vergangenen Samstag in der Überzeugung, seinen zweiten Mordfall endlich abgeschlossen zu haben, dieses geistesgestörte Schreiben aus seinem Briefkasten genommen hatte, befand sich Vincenzo dauerhaft in einem tranceähnlichen Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit. Dazu kamen die Erinnerungen an das Eis, an Gianna, deren Traumatisierung um einiges stärker war als seine, die sich in eine merkwürdige Welt zurückgezogen und einen Schutzraum um sich errichtet hatte, den niemand betreten durfte, vor allem nicht Vincenzo.
Gianna! Er ließ die Waffe zu Boden sinken. Tränenrinnsale liefen über seine Wangen und tropften auf den Dielenboden. Sie hatten eine wundervolle Zeit zusammen gehabt. Trotz ihrer unterschiedlichen Ziele wollten sie für immer zusammenbleiben, waren sich sicher, dass es für ihre unterschiedlichen Lebenssituationen eine passende Lösung geben würde. Doch seit weniger als einer Woche war der Traum ausgeträumt, der Traum von einer gemeinsamen Zukunft, von Freundschaft, Liebe, Kindern, der Vorstellung, zu zweit alt zu werden. Die einfachste Formel für das Glücklichsein. Anstelle des Traums vom gemeinsamen Glück waren nun die Alpträume getreten, die ihn selbst am helllichten Tag heimsuchten.
Vincenzo riss sich zusammen, kroch zum Fenster und zog die Rollläden hoch. Draußen war es längst hell geworden. Er schaute auf die Uhr, schon neun. Offensichtlich hatte er nach seinem täglichen Versuch, Angst und Frust mit Alkohol zu betäuben, wieder einmal vergessen, den Wecker zu stellen. Höchste Zeit, in die Questura zu kommen, auf das Frühstück musste er verzichten. Der Vice-Questore, Dottore Alessandro Baroncini, fasste ihn zwar im Moment mit Samthandschuhen an, doch irgendwann würde auch seine Geduld ein Ende haben.
Während Vincenzo in seine Hosen schlüpfte, klemmte er sich den Telefonhörer zwischen Schulter und Kinn und presste die Taste für Wahlwiederholung.
»Psychiatrie Bozen, Sie sprechen mit Dottore Crescente Albertazzi.«
»Guten Morgen, Dottore! Bitte entschuldigen Sie die erneute Störung, aber ich muss wissen, ob er in seiner Zelle ist.« Vincenzo lauschte Albertazzis Atemzügen.
»Commissario, Sie müssen sich dringend, ich wiederhole: dringend in therapeutische Behandlung begeben. Ich kann Sie zwar verstehen und als Fachmann alles nachvollziehen, aber als solcher sage ich Ihnen auch, dass Sie unter Verfolgungswahn leiden. Und zwar unter einem mit dem Potenzial, sich zu einer paranoiden Persönlichkeitsstörung auszuwachsen. Allein werden Sie das nicht wieder in den Griff kriegen. Dennoch will ich Ihre Frage beantworten: Selbstverständlich ist er in seiner Zelle. Ich habe mich persönlich seiner angenommen. Dieser Fall ist selbst für einen alten Hasen wie mich eine echte Herausforderung. Im Übrigen kommt aus unserem Hochsicherheitstrakt garantiert niemand raus. Unsere Anstalt verfügt über das modernste Sicherungssystem, das der Markt derzeit zu bieten hat. So, und jetzt muss ich zu genau diesem Patienten. Bitte entschuldigen Sie mich, Commissario, und rufen Sie bitte nicht mehr an. Befolgen Sie lieber meinen Rat, vertrauen Sie mir, das wäre das Beste für Sie. Ciao.«
Vincenzo schlich ins Bad. Er hatte Albertazzi im Rahmen seiner Ermittlungen kennengelernt. Zweifelsohne ein guter Psychiater. Aber Verfolgungswahn? Der Mann hatte doch keine Ahnung, wovon er sprach. Wer war denn im Eis gefangen gewesen? Albertazzi oder Gianna? Wer hatte denn all das durchgemacht? Er und Therapie? So ein Blödsinn. Wut keimte in ihm auf. Hoffentlich hielt die nähere Zukunft wenigstens einen anspruchsvollen Fall für ihn bereit, der ihn von seinen Gefühlen und Gedanken ablenken würde. Und von Gianna, die angekündigt hatte, den Kontakt zu ihm bis Weihnachten einzustellen. Zumindest bis zum Abschluss der Therapie, der sie sich, im Unterschied zu ihm, unterzog.
5
Zillertaler Alpen, an der Grenze zu Österreich, Freitag, 29. Oktober
Die Sonne schien ihnen direkt ins Gesicht. Vor ein paar Tagen hatte ein historischer Kälteeinbruch Südtirol lahmgelegt. Meterhoch hatte sich im Hochgebirge der Schnee aufgetürmt, und selbst in tieferen Lagen war der
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