Goldrausch: Tannenbergs zweiter Fall
Mutter einen weiteren blauen Geldschein.
»Der junge Kretschmer ist nach diesem verfluchten Mauerfall, wo diese ganzen verdammten Flüchtlinge zu uns gekommen sind, um unsere Rentenversicherung auszuplündern, rüber in die Ostzone …«
»Neue Bundesländer, Vater!«, belehrte der Kripo-
beamte.
»Ostzone!«, wiederholte Jacob trotzig. »Und ein paar Jahre später ist er dann wieder nach Westdeutschland zurückgekommen – als Professor und Adliger! Das ist’n Ding, oder?«
»Kann man wohl sagen!«
»Im Tchibo steht so einer von diesen Flüchtlingen, natürlich an einem anderen Tisch! Der hat keinen Pfennig einbezahlt und bekommt jetzt dieselbe Rente wie ich, obwohl ich 45 Jahre lang geklebt hab! Und der gibt damit auch noch an! Das ist so …«
Tannenberg schaltete seine akustischen Wahrnehmungssensoren ab, denn er kannte zur Genüge die Argumente seines Vaters, die immer darauf hinausliefen, dass man damals anstatt den ›antiimperialistischen Schutzwall‹ niederzureißen, besser der DDR-Regierung großzügige Finanzhilfen gewährt hätte – um damit die Mauer noch ein paar Meter höher zu bauen.
Der Chef eines Kaiserslauterer Vorzeigeunternehmens – ein Hochstapler? Das glaub ich einfach nicht! Aber wo hat der bloß den Adelstitel her, fragte er sich kopfschüttelnd und machte sich gierig über die in ein dickes Sauerkrautnest gebetteten und mit einer braunen Zwiebelhaube gekrönten Leberknödel her.
Als Tannenberg in der Kriminalinspektion am Pfaffplatz erschien, wurde ihm sehr schnell klar, dass sich sein Malheur in Windeseile unter den Kollegen herumgesprochen hatte; denn bereits unten am Eingang des Gebäudes empfing ihn der diensthabende Beamte mit einem derart spöttischen Grinsen, dass er am liebsten gleich wieder umgekehrt wäre.
Mühevoll schleppte er sich die Treppe hoch zu den Diensträumen des Kommissariats und drückte mit seinem unverletzten Arm langsam die Flurtür auf. Plötzlich musste er an einen Begriff denken, den er einmal bei einem Studium-Generale-Vortrag des damals fast hundertjährigen Hans-Georg Gadamer an der Uni gehört hatte: lebender Anachronismus! So hatte sich der alte Philosophie-Professor selbst bezeichnet, und auf Nachfrage einer Studentin auch erläutert, was er damit meinte: Er sei deshalb ein lebender Anachronismus, weil er zwar immer noch physisch in der modernen Welt präsent sei, aber ansonsten einfach nicht mehr dazugehöre.
Genau so fühlte sich Tannenberg, als er von der Korridor-
tür aus am Schreibtisch seiner Sekretärin vorbei durch die sperrangelweit geöffnete Tür seines Büros blickte.
Er hatte zwar nicht unbedingt erwartet, dass angesichts seines Unfall, der ja mit etwas Pech schließlich auch hätte tödlich enden können, seine engsten Mitarbeiter von innigster Anteilnahme beseelt, kaum fähig zur Bewältigung ihres kriminalistischen Tagesgeschäfts sein würden. Aber er hatte schon mit spürbarer Betroffenheit gerechnet.
Dem schien aber überhaupt nicht so zu sein, denn alle erfreuten sich augenscheinlich prächtigster Stimmung: Petra Flockerzie hatte irgendwo ein Kofferradio aufgetrieben und sang die daraus ertönende Popmusik leise mit; Karl Mertel stand neben Sabrina, die ihm lachend irgendetwas auf ihrem Computer zeigte. Und Kommissar Schauß saß, die Beine lässig auf die Tischplatte gelegt, gestenreich telefonierend auf Tannenbergs ledernem Schreibtischsessel.
Seine Sekretärin bemerkte ihn als erste. Sofort schaltete sie das Radio aus. Dann stürmte sie auf ihn zu.
»Oh Gott, Chef, wie sehen Sie denn aus!«
Auch die anderen Mitarbeiter des K1 gebärdeten sich so, als ob sie gerade in flagranti bei einer Straftat ertappt worden seien: Schauß beendete umgehend sein Telefonat, verließ Tannenbergs Büro, ja er zog sogar die Tür hinter sich ins Schloss, so als wolle er damit dokumentieren, dass jetzt, nachdem der Kommissariatsleiter wieder aufgetaucht war, er in dessen Zimmer nichts mehr zu suchen habe. Auch Mertel und Sabrina reagierten äußerst merkwürdig: unsicher, irgendwie betroffen, so ähnlich, wie es Tannenberg bei vielen Verhören erlebt hatte, wenn er gerade einen Beschuldigten der Lüge überführte und sich dessen schlechtes Gewissen in aufdringlicher Weise bemerkbar machte.
»Hallo, Wolf, schön dich zu sehen«, begrüßte ihn Michael Schauß mit leicht errötetem Kopf. »Wie lange bist du denn krankgeschrieben?«
»Wie, krankgeschrieben? – Ach, jetzt versteh ich endlich: Du bist hier der neue Chef! Soll ich
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