Goldrausch: Tannenbergs zweiter Fall
den schlaff über eine braune Vase herabhängenden, verwelkten Blumen passte, machte sich trotzdem in seiner Seele keine depressive Stimmung breit. Vielleicht hing es an den aus vielen kleinen roten Plastikdöschen herausleuchtenden, zarten Feuerscheinen, die den mattglänzenden dunklen Marmorplatten eine melancholische Feierlichkeit verlieh, vielleicht war dafür aber auch die aus Richtung der Sandsteinkapelle gedämpft an sein Ohr dringende Kirchenmusik verantwortlich.
Direkt vor ihm lugte ein schwarzes Eichhörnchen vorwitzig hinter einem verwitterten Grabstein hervor.
»Komm, lass mich mal unter deinen Schirm, du alter Egoist!«, hörte Tannenberg plötzlich eine wohlbekannte männliche Stimme, die sich ihm von hinten näherte.
»Na, du hast mir zu meinem Glück heute gerade noch gefehlt«, sagte er lächelnd, während er sich zu Dr. Schönthaler umdrehte. »Was willst du denn eigentlich hier? Sind dir etwa die Leichen ausgegangen?«
»Im Moment ist es schon ziemlich langweilig«, antwortete der Gerichtsmediziner und drückte sich unter den schwarzen Schirm. »Hast du nicht bald mal wieder was für mich?«
»Wer weiß? – Wieso hast du denn eigentlich den Leichnam dieser Susanne Niebergall so schnell freigegeben?«
»Also erstens gebe ja nicht ich, sondern die Staatsanwaltschaft die Leiche zur Bestattung frei, und zweitens haben die Eltern der toten Frau alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit ihre Tochter so schnell wie möglich beerdigt werden kann. Die waren sogar zwei Mal bei mir in der Pathologie.«
»Und? Was für einen Eindruck hattest du von ihnen?«
»Eindruck?« Der Gerichtsmediziner legte eine kurze Pause ein, während der er seinen Mantelkragen nach oben schlug. »Irgendwie ist es ja blöd, so was zu sagen, gerade noch am Tag der Beerdigung. Aber mir schien es so, als ob die Eltern nicht gerade ein besonders herzliches Verhältnis zu Ihrer Tochter hatten, besonders der Vater nicht. Der war so merkwürdig unterkühlt. Na ja, vielleicht bild ich mir das ja auch nur ein.«
»Sag mal, hab ich das eigentlich geträumt, oder hattest du bei diesem Weinfest irgendwann mal erwähnt, dass es sich bei der Toten möglicherweise gar nicht um diese Susanne Niebergall gehandelt haben könnte?«
»Endlich! Dein Erinnerungsvermögen kehrt ja zurück. Natürlich hab ich das gesagt! Hätte ja schließlich auch so sein können! Du warst nämlich nach meinem Dafürhalten viel zu früh und viel zu einseitig darauf fixiert, dass die Tote in diesem Büro automatisch die Frau sein müsse, die dort gearbeitet hat. Du hast dich nur auf diese eine Möglichkeit beschränkt! Aber als Kriminalist musst du doch wohl schließlich alle Optionen in Erwägung ziehen. Und da hab ich eben gedacht, ich verpass dir mal ein mentales Fitnessprogramm, um dein altes Gehirn wieder etwas auf Trab zu bringen. Du hast einfach zu linear gedacht, alter Junge – komplexeres Denken ist angesagt!«
»Danke für die Belehrung!«
»Keine Ursache! Gern geschehen.«
»Was für’n Quatsch: komplexer denken. Das tu ich doch, und du weißt das auch. Aber es war doch mehr als unwahrscheinlich, dass es sich bei der Toten nicht um diese Frau Niebergall handelt. Und da hab ich den Ermittlungsfokus zunächst mal auf diese – ich betone: naheliegende! – Hypothese gerichtet. Die dann ja wohl auch zugetroffen hat«
»Ja, stimmt schon. Aber …«
»Aber? … Aber du kennst doch genauso gut wie ich den eigentlichen Grund, warum du das gesagt hast …«
»Und der wäre?«
»Du wolltest dich doch nur vor diesen jungen Weibern aufspielen, du alter Gockel!«
»Alter Gockel? Na hör mal!«
»Bevor du jetzt gleich eingeschnappt bist, biete ich dir den sofortigen Waffenstillstand an – akzeptiert?«
Dr. Schönthaler schluckte seinen aufkeimenden Ärger hinunter und suchte, um das Friedensabkommen mit einem kräftigen Handschlag zu besiegeln, nach einer freien Hand seines Freundes, fand aber keine, denn dessen eine hielt den Ledergriff des schwarzen Regenschirms fest umklammert, während die andere, von Gips ummantelt, sich in einer breiten Armschlinge ausruhte.
»Akzeptiert!«, sagte er deshalb ohne formelle Bekräftigung.
»Gut. Dann klär mich doch mal bitte darüber auf, wieso eigentlich definitiv feststeht, dass es sich bei diesem total verkohlten Etwas um Susanne Niebergall gehandelt hat.«
»Ganz einfach: Der Unterkiefer war ja zum Glück noch vollständig erhalten. Und da mussten wir nur ihren Zahnarzt ausfindig machen, was den Kollegen auch
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