Goldstein
hundertprozentiger Demokrat, aber ein tausendprozentiger Verfechter des Rechtsstaats.
Heymann klappte seine Kladde zu. »Ich weiß, ich habe Ihnen nicht viel Bedenkzeit gelassen«, sagte er. »Eine Woche ist nicht viel. Und Sie stehen ja schon mitten im Berufsalltag. Aber die Sache eilt.« Der Professor schaute sie an, neugierig gespannt, als könne er in ihrem Gesicht die Antwort auf die Frage lesen, die er jetzt stellte. »Und?«, fragte er. »Haben Sie sich entschieden?«
Charly nickte. »Ja, Herr Professor, das habe ich.«
60
D ie Schlagzeile im Tag hatte in der Burg für Aufregung gesorgt. Und für einen Termin bei Bernhard Weiß. Diesmal hatte der Polizeivizepräsident die Beamten Rath und Böhm gemeinsam sprechen wollen, doch Rath war gelassen in dieses Gespräch gegangen. Ohnehin war Wilhelm Böhm derjenige, den die Geschichte am dümmsten aussehen ließ, vor allem die Tatsache, dass die Presse offensichtlich besser über die Umstände des Humboldthain-Mordes im Bilde war als der mit dem Fall befasste Beamte. Mehr noch als über die Frage, wer die Fahndungszeichnung an die Zeitung gegeben hatte, zerbrach Böhm sich den Kopf darüber, wer den dort Porträtierten als Abraham Goldstein identifiziert haben mochte.
Denn niemand im Präsidium, der das Porträt bislang zu Gesicht bekommen hatte, hätte damit einen Namen verbinden können, weder Böhm noch die Fahndung. Aber irgendein Kollege musste darin Abraham Goldstein erkannt haben, einen Gangster aus Brooklyn. Und dieser Kollege hatte nicht den ermittelnden Beamten Wilhelm Böhm informiert, sondern Stefan Fink, einen stadtbekannten Journalisten, der hinter Sensationen her war wie ein Morphinist hinter der nächsten Spritze.
Wo also saß das Leck? Die Polizeizeichnung war am Samstagabend an die Fahndung und an alle Polizeireviere gegangen, irgendwann in der Nacht musste jemand sie an Fink weitergeleitet haben.
Zu den wenigen, die Goldstein kannten, gehörten Gereon Rath und seine Männer. Und für die hatte Rath seine Hand ins Feuer gelegt. Einzig der dicke Czerwinski ließ ihn ein wenig zweifeln, aber das hatte er Weiß gegenüber natürlich nicht zugegeben. Der Vize hatte sie mit klar umrissenen Aufgaben wieder entlassen: Böhm sollte die Ermittlungen im Fall Kubicki intensivieren, Rath weiter nach dem verschwundenen Gangster suchen. Unterstützt durch die Inspektion J, auf deren Prioritätenliste die Suche nach Abraham Goldstein nun ganz oben stand. Unter der Decke halten konnte man die Tatsache, dass ein amerikanischer Gangster in Berlin unterwegs war und dabei womöglich gemordet hatte, nun sowieso nicht mehr.
Rath hatte seine Leute bereits im Einsatz. Henning und Czerwinski saßen seit acht Uhr im Excelsior und setzten die Befragung des Hotelpersonals fort. Plisch und Plum sollten sich alle Mitarbeiter vornehmen, die in den vergangenen Tagen im fraglichen Gebäudeflügel Dienst geschoben hatten. Wenn Goldstein das Personaltreppenhaus benutzt hatte, war vielleicht auch anderen noch etwas aufgefallen.
Eigentlich wäre Gräf für die Befragungen im Hotel der geeignetere Mann gewesen, doch den hatte sich nach wie vor Böhm unter den Nagel gerissen. Der Kriminalsekretär hatte Vernehmungsraum B in Beschlag genommen und arbeitete weiterhin die Zeugen ab. Die Zahl der Menschen, die angeblich etwas gesehen hatten, sich aber eigentlich nur wichtigmachen wollten, hatte nach dem Artikel im Tag wieder zugenommen. Überwiegend Antisemiten, die die willkommene Gelegenheit nutzten, der Polizei ihr Versagen unter die Nase zu reiben: ein amerikanischer Gangster, der frei in Berlin herumlief, und dann auch noch ein jüdischer, der es offensichtlich auf SA-Männer abgesehen hatte! Rath fand die Vorstellung durchaus sympathisch, einige Braunhemden könnten jetzt in ihren Sturmkneipen hocken und sich aus Angst vor einem wie Goldstein nicht mehr auf die Straße trauen. Sollte das wirklich so sein, dürften Berlins Straßen durch Goldsteins Flucht eher sicherer als unsicherer geworden sein. Er beneidete Gräf jedenfalls nicht darum, sich mit diesen Idioten herumschlagen zu müssen, ihm selbst fehlte für so etwas die Geduld.
Inzwischen war es bereits Mittag, und Rath saß an seinem Schreibtisch. Er hatte mit Czerwinski telefoniert und ein paarmal mit den Fahndern, doch Oberkommissar Kilian hatte bislang noch keine Spur. Der nicht autorisierte Abdruck der Polizeizeichnung im Tag hatte auch den Fahndern zwar jede Menge Hinweise beschert, darunter aber nichts
Weitere Kostenlose Bücher