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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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ist gut, deshalb kannst du dich frei bewegen. Setze deine Mütze auf, dann sieht keiner deine Kipa, und schiebe deine Schläfenlocken hinter die Ohren. Du weißt doch noch den Weg, nicht wahr?«
    Jankel nickte.
    »Geh«, drängte der Rabbi. »Geh! Reb Meisl ist ein alter Mann, seine Kräfte könnten schon bald schwinden. Wer weiß, wie lange er es bei Wasser und Brot aushält. Und sei vorsichtig, Jankel, sei auf der Hut.« Er legte ihm die Hände auf den Kopf und segnete ihn.
    Jankel drehte sich um und lief los.
    In der Judenstadt war es totenstill gewesen, doch kaum hatte er die letzten Häuser hinter sich gelassen, schien es ihm, als wäre er in einem anderen Land angekommen. Überall sah er Menschen, die ihren Geschäften nachgingen, durch die Gassen eilten, sich miteinander unterhielten, feilschten, schimpften und lachten. Die Gegensätze hätten an diesem Abend nicht größer sein können.
    A n den Weg von der Judenstadt zu Doktor Balthasar erinnere ich mich noch genau, vermutlich deshalb, weil ich unterwegs fast gestorben bin vor Angst. Ich lief mit gesenktem Kopf, weil ich glaubte, dass alle mich anstarrten. Wenn wenigstens Schmulik bei mir gewesen wäre. Aber ich war allein. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich merkte, dass mich niemand anschaute, niemand deutete mit dem Finger auf mich, niemand drehte sich nach mir um.
    H inter der Brücke, nach dem Brückenturm, sah Jankel auf dem Platz, auf dem viele Händler ihre Waren feilboten, eine Menschenansammlung, in deren Mitte ein Mönch auf einer Kiste stand, um besser gesehen zu werden. Er wollte schon vorbeigehen, da hörte er den Mönch davon sprechen, dass ein Jude, ein Christusmörder, ein fürchterliches Verbrechen an einem unschuldigen christlichen Kind begangen habe.
    Mit klopfendem Herzen trat er näher. Der Mönch zog gerade ein Pergament aus der Kutte und las vor: »Erstens wird ihnen, den Juden, in der Überlieferung ihrer Vorfahren gesagt, dass das Blut eines Christen ein hervorragendes Mittel sei, um eine durch die Beschneidung hervorgerufene Wunde zu heilen. Zweitens wissen sie, dass dieses Blut die Zubereitung eines Gerichts ermöglicht, das die gegenseitige Liebe weckt. Drittens haben sie festgestellt, dass für an monatlichen Blutungen Leidende, ob sie Mann oder Frau sind, das Blut eines Christen ein hervorragendes Heilmittel bildet. Viertens sind sie auf Grund eines alten und geheimen Gebotes verpflichtet, jährlich christliches Blut zu opfern …«
    Jankel ging schnell weiter, er wollte nicht mehr zuhören.
    M ir war plötzlich etwas eingefallen, vermutlich deshalb, weil der Mönch von einer durch die Beschneidung hervorgerufenen Wunde gesprochen hatte. Der Vorfall lag lange zurück, ich hatte ihn eigentlich schon vergessen, doch nun fiel mir alles wieder ein.
    Ich muss noch sehr klein gewesen sein, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Meine Mutter hatte mich mit einem Auftrag zu Tante Schejndl geschickt, die damals noch in einem Häuschen auf der anderen Seite von Mo ř ina wohnte. Auf dem Rückweg überfielen mich Christenkinder, eine Bande von Jungen, die alle viel größer waren als ich. Sie zerrten mich hinter ein Gebüsch und zogen mir die Hose runter. »Wenn du schreist, schlagen wir dich tot«, sagten sie und ich schrie nicht. Sie betrachteten mein Glied und lachten über das Zeichen des Bundes und rissen daran und machten sich auf alle möglichen Arten an mir zu schaffen, die mir schrecklich wehtaten, und ich schrie noch immer nicht, denn ich schämte mich viel zu sehr, als dass ich hätte schreien können. Bevor der Letzte endlich von mir abließ, nahmen die anderen mir noch meine Kipa vom Kopf und warfen sie durch die Luft wie einen Ball.
    Ich lag ohnmächtig hinter dem Gebüsch, jedenfalls glaube ich, dass ich ohnmächtig war, und auch als ich wieder zu mir kam, blieb ich liegen. Ich schämte mich so sehr, dass ich nicht wagte, mein Versteck zu verlassen, ich hätte es wohl auch nicht gekonnt, denn ich krümmte mich vor Schmerzen.
    Stundenlang lag ich da, es wurde dunkel. Irgendwann fand mich mein Vater, der ganz Mo ř ina nach mir abgesucht hatte. Die Kipa, die in den Zweigen des Gebüschs hängen geblieben war, hatte ihn auf meine Spur gebracht. Er küsste mich, er zog mir die Hose wieder an, er nahm mich auf den Arm und trug mich nach Hause. Und auf dem ganzen Weg weinte er. Er war es auch, der mein blutendes Glied reinigte und verband, der mir half, wenn ich, vor Schmerz weinend, meine Notdurft verrichtete, und er hielt mich

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